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Fokus: Erste Jahre

«Nicht so bestellt, dieses Muttersein»

Das erste Mal Eltern zu werden, bedeutet, in ein ganz neues Leben einzutauchen. Eltern eines Kindes mit Behinderung zu werden, sprengt diese Dimension. Für Marianne Wüthrich sind die Erinnerungen an die ersten Jahre mit ihren Söhnen teils verschwommen, teils sehr intensiv. Eines jedoch steht fest: Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt.

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«Nicht so bestellt,
dieses Muttersein»

Das erste Mal Eltern zu werden, bedeutet, in ein ganz neues Leben einzutauchen. Eltern eines Kindes mit Behinderung zu werden, sprengt diese Dimension. Für Marianne Wüthrich sind die Erinnerungen an die ersten Jahre mit ihren Söhnen teils verschwommen, teils sehr intensiv. Eines jedoch steht fest: Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt.

Denke ich heute an die ersten Jahre mit Max und dann natürlich auch mit den Zwillingen zurück, kommt bei mir eine Flut an Erinnerungen und Emotionen hoch. Diese Zeit war für mich eine einzige Achterbahn, wahnsinnig intensiv. Und doch sind diese Erinnerungen manchmal eher verschwommen. Vielleicht ist das eine der menschlichen Überlebensstrategien: erinnere dich vor allem an das Gute und Schöne, blende den Rest aus. Verdrängen auf hohem Niveau.

Natürlich ist nicht alles weggewischt, es gibt auch ganz prägende Momente, solche, die ich bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen werde. Schöne, wunderbare, glückliche, aber auch schwierige, traurige, anspruchsvolle. Als Paar haben wir zum Glück immer irgendwie die Kurve gekriegt, uns den Rücken freigehalten und uns gegenseitig unterstützt. Ich schaue auf diese Jahre zurück und frage
mich dennoch manchmal: «Wie haben wir das eigentlich geschafft?» Bis heute fehlt uns die Zeit für uns als Paar. Umso mehr schätzen wir es, wenn wir einfach mal zwischendurch einen Kaffee zusammen trinken oder am Abend noch auf dem Sofa sitzen, während Max mal wieder den Schlaf sucht.

Eine Zeit im Ausnahmezustand

Die meisten von uns machen sich während der Schwangerschaft zig Gedanken, was sich alles ändern würde und wie es denn wird, dieses neue Leben mit Kind. Und oft wird es dann ganz anders als gedacht. Tatsache ist aber, dass ein Kind das Leben der Eltern auf den Kopf stellt. Kommt das Kind mit einer Krankheit oder Behinderung zur Welt, katapultiert dies die Eltern in eine nochmals ganz andere Dimension.

Bei uns jedenfalls herrschte in der ersten Zeit andauernd Ausnahmezustand. Unsere Weltanschauung wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Nein, so hatte ich mir das definitiv nicht vorgestellt. Spätestens als ich dann lernte, wie ich diesem kleinen Knirps eine Magensonde stecken muss, dachte ich, dass da was schiefzulaufen schien. Nicht so bestellt, dieses Muttersein.

In unserem Umfeld können längst nicht alle mit dem behinderten Kind umgehen. Es ist nicht salonfähig, sowas zuzugeben. Es wäre mir damals trotzdem manchmal lieber gewesen, wenn diese Menschen einfach gesagt hätten: Ich kann das nicht. Klar stelle ich mich wie eine Löwin vor ihr
Junges, wenn Max von bekannt oder unbekannt blöd angemacht wird, und versteckt haben wir ihn nie. Aber vielleicht hätten wir uns auch gegenseitig fragen können, was es denn braucht, damit wir die Freundschaft weiter pflegen können. Die Kehrseite der Medaille ist, dass wir auch ganz viele neue tolle Freundinnen und Freunde gefunden haben, deren Wege wir ohne Max vielleicht nicht gekreuzt
hätten. Dafür bin ich enorm dankbar. Und es ist ja im Leben immer so: Wir treffen Menschen und gehen ein Stück gemeinsam und dann trennen sich Wege aus unterschiedlichen Gründen wieder.

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Seit Max in der Schule ist, hat seine Mutter einen verlässlichen Alltag. Er braucht aber noch immer viel Betreuung.

Das Kind wird grösser, der Aufwand bleibt

Als ich zum ersten Mal schwanger war, hatte ich nicht damit gerechnet, nicht nur Mutter, sondern auch medizinische Fachkraft und Therapeutin zu werden. Daneben wurde ich auch noch Netzwerkerin auf der Suche nach Gleichbetroffenen.

Aber nicht nur das. Als Eltern eines Kindes mit Behinderung muss man stets auch die medizinischen Fakten zusammenhalten. Das hat mich überrascht, dachte ich eigentlich, dass es dafür eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt gibt. Im realen Leben sind es schlussendlich aber immer die Eltern,
die sich kümmern müssen, die rechtzeitig Nachkontrollen vereinbaren und keine Termine vergessen dürfen. Und sie müssen nachfragen, forschen, neue Vorschläge machen, Ideen umsetzen, auch bei Widerstand. Diese administrativen Aufgaben kamen bei uns von einem Tag auf den anderen. Max’ Unterlagen füllen mittlerweile mehrere Ordner. Mein Baby war damals noch nicht einmal zu Hause, mussten wir schon Anträge an die IV stellen.

Zum Papierkram hinzu kommen pflegerische Themen. Heute gibt es die Möglichkeit, sich bei diversen Spitex-Firmen beraten und sich auch anstellen zu lassen als pflegende:r Angehörige:r. Ich bin froh, dass sich da, wenn auch langsam, etwas tut. Es braucht unglaublich viel Energie, den ganz
normalen Alltag und ein behindertes Kind unter einen Hut zu bringen. Unterschätzt wird in meinen Augen auch die Tatsache, dass die Unterstützung für ein Kind mit Behinderung mit der Zeit nicht abnimmt. Auch wenn die Kinder grösser werden und eigene Persönlichkeiten entwickeln,
der Pflegeaufwand der Eltern bleibt. Es gibt kein «Wir stehen jetzt mal die ersten strengen Jahre durch, dann wird’s besser.». Max braucht heute, als manchmal sehr wütender Teenager, noch immer gleich viel Betreuung wie als Baby. Einfach anders, teilweise viel intensiver. Immerhin gibt es
während der Schulzeit einen verlässlichen Alltag. Und bald beginnt für Max ein neues Kapitel mit ersten Schritten ins Erwachsenenleben, dann wird er in ein paar Jahren wohl auch von zu Hause ausziehen. Ich freue mich sehr auf diese neuen Erfahrungen und auf neue Begegnungen. Allerdings
frage ich mich schon manchmal, was ich dann mit der ganzen freien Zeit anfangen soll. Vielleicht endlich mal all die Bücher lesen, die ich in den letzten Jahren gestapelt habe? Remo Largos «Babyjahre» lass ich dann mal weg.

Text und Fotos: Marianne Wüthrich

Marianne-Wüthrich

Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents

In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.

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