«Die Eltern befinden sich in
einem Ausnahmezustand»
Wenn bei einem Kind eine Behinderung oder schwere Erkrankung diagnostiziert wird, stellt das den Alltag der Eltern auf den Kopf. Alexandra Jost Diacon von der Sozialberatung am Kinderspital Zürich ist oft schon beim Diagnosegespräch dabei – und bleibt für viele Familien eine wichtige Stütze, auch wenn der Schock nachlässt und die Fragen anfangen.

Alexandra Jost Diacon ist ausgebildete Pflegefachfrau und Sozialarbeiterin FH bei der Sozialberatung des Kinderspitals Zürich, zuständig für die Bereiche Neurologie, EEG / Epilepsie, Reha ambulant und das Spina Bifida Zentrum. Sie und ihre Kolleg:innen beraten Eltern von Kindern mit schweren Erkrankungen oder Behinderungen in Fragen zu Sozialrecht, Versicherungen und Finanzen, unterstützen bei der Organisation von Entlastung und vermitteln weiterführende Fachstellen. Jost Diacon lebt mit ihrem Mann in Zürich. www.kispi.uzh.ch/sozialberatung
Alexandra Jost Diacon, Sie beraten Eltern, bei deren Kind eine schwere Erkrankung oder eine Behinderung diagnostiziert wurde. Mit welchen Gefühlen kommen diese Eltern zu Ihnen?
Alexandra Jost Diacon: In dieser ersten Phase nach der Diagnosestellung – ich nenne sie «Katastrophenphase» – stehen die Eltern oft unter Schock. Sie müssen sich von ihrem Wunschkind verabschieden. Manche fallen in ein tiefes Loch und bleiben da auch eine Weile. Andere finden schneller zur Zuversicht zurück. Viele fragen: «Was erwartet uns? Was wird aus unserem Kind?» Dann muss ich ehrlicherweise antworten, dass ich das nicht weiss. Je des Kind ist verschieden, ein und dieselbe Diagnose kann sich völlig anders entwickeln. Ich kann keine Prognosen abgeben, versuche aber, Optionen aufzuzeigen und vor allem zu vermitteln: «Ihr werdet nicht alleine gelassen.»
Was können Sie in dieser Katastrophenphase konkret für die Eltern tun?
Die Eltern befinden sich in einem absoluten Ausnahmezustand und haben meist nicht die Kraft, sich irgendwo zu melden oder etwas zu organisieren. Ich unterstütze sie in administrativen Dingen. Oft bin ich schon beim Diagnosegespräch mit den Ärztinnen und Ärzten dabei und erkläre, was meine Rolle ist und was ich anbieten kann. Aber auch wo meine Grenzen sind.
Was können Sie anbieten, und was nicht?
Ich kann den Familien erklären, welche Leistungen ihnen zustehen und wie sie diese beantragen, aus sozialversicherungs- und arbeitsrechtlicher Sicht. Ich kann ihnen helfen, sich zu vernetzen, Entlastung zu finden und bei anderen Stellen Unterstützung zu bekommen. Jedoch kann ich nicht als ihre Rechtsvertreterin fungieren oder eine behindertengerechte Wohnung für sie suchen.
Gibt es manchmal Fälle, in denen Familien keine Unterstützung möchten?
Manche Eltern erschrecken, wenn sie das Wort Sozialberatung hören, und reagieren abwehrend. «Das brauchen wir nicht.» Sie denken dabei an Sozialhilfe. Dann ist es wichtig, zu erklären, dass wir ein völlig freiwilliges Angebot sind. Es gibt keine Konsequenzen, wenn sie nicht kommen.
Gilt es, nach einer Diagnose so schnell wie möglich eine IV-Anmeldung auszufüllen?
Das hat nicht oberste Priorität und hängt davon ab, wie es den Eltern geht. Zuerst versuche ich, herauszufinden, ob es etwas gibt, was ich jetzt gerade für die Familie tun kann. Eine akute Sorge, die ich ihnen nehmen kann. Der Papierkram kommt später.
Wie finden sich Eltern generell im IV- und Krankenkassen-Dschungel zurecht?
Die grossen Papierberge sind für viele Eltern eine grosse Hürde, besonders wenn Deutsch nicht ihre Muttersprach ist. Wenn nötig arbeiten wir mit Dolmetscher:innen zu sammen. Die Leistungen der IV und der Krankenkasse sind je nach Erkrankung oder Behinderung sehr unterschiedlich. Ich erkläre den Eltern, wie sie die Formulare ausfüllen und worauf sie achten müssen. Manchmal ist es sehr entscheidend, wie ein Gesuch formuliert wird.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Nehmen wir an, die Eltern beantragen ein Pflegebett: Wenn sie schreiben, ihr Kind sei 50 Kilo schwer und sie hätten Rückenschmerzen, interessiert das die IV herzlich wenig; das Gesuch wird abgelehnt. Die Begründung muss auf schulische Integration und Teilhabe am sozialen Leben abzielen. Also beschreibt man, dass das Kind auf das Pflegebett angewiesen ist, um überhaupt eine gewisse Mobilität und Selbstständigkeit erreichen zu können.

Welche Herausforderungen stellen sich für Eltern, die berufstätig sind?
Die psychische Belastung der Eltern nach einer Diagnose ist riesig und sie sind verständlicherweise oft nicht in der Lage, sich mit ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Glücklicherweise gibt es seit 2021 den Betreuungsurlaub, der in gewissen, sehr schwerwiegenden Fällen den Anspruch auf Arbeitsbefreiung und Lohnfortzahlung regelt. Das verschafft den Eltern etwas Luft und nimmt ihnen finanzielle
Sorgen. Der Aufwand, diesen zu beantragen, ist aber nicht zu unterschätzen. Deshalb empfehle ich meist zuerst eine Krankschreibung über die Hausarztpraxis der Eltern, damit sie erst einmal durchschnaufen können, bevor sie den Papierberg angehen.
Und auf längere Sicht: Ist es für Eltern mit einem Kind mit schwerer Erkrankung oder Behinderung schwieriger, weiterhin beide in der Arbeitswelt zu bleiben?
Die Hürden sind sicher grösser. Vielerorts fehlt es an geeigneten Betreuungsangeboten für Kinder im Vorschulalter, gerade für solche, die medizinischen Betreuungsbedarf haben. Fast immer bleibt dann die Mutter zu Hause oder reduziert ihr Pensum, der Vater wird zum Haupternährer. Den umgekehrten Fall gab es in meinen zwanzig Jahren in der Sozialberatung am Kispi so gut wie nie. Die traditionellen Rollen verhärten sich.
Wie stehen Sie zu den immer stärker aufkommenden privaten Spitexorganisationen, von denen sich pflegende Eltern anstellen und bezahlen lassen können?
Ich sehe das sehr zwiespältig und empfehle es nicht aktiv. Den Grundgedanken, dass Eltern einen Lohn für ihre Pflegeleistungen und vor allem soziale Absicherung erhalten, finde ich zwar sehr gut, aber diese Firmen bewegen sich in einem rechtlichen Graubereich. Wenn man sich das
überlegen möchte, sollte man sehr genau vergleichen, die Leistungen durchrechnen und sich von einer Fachstelle beraten lassen.
Was belastet Eltern am meisten, abgesehen von der Sorge um ihr Kind?
Sehr viele Familien kommen in eine finanzielle Notlage. Sie müssen ihr Arbeitspensum reduzieren, vielleicht ist ein Umzug in eine behindertengerechte Wohnung notwendig, Hilfsmittel sind sehr teuer und werden nicht immer übernommen. Bei finanziell stark belasteten Familien arbeiten wir mit den Gemeinden und Sozialhilfestellen zusammen. Notfalls können Ausgaben über Spenden und Anfragen bei Stiftungen gedeckt werden.
Eltern-WhatsApp-Chat
«Mehrfachbehinderung»
Der Eltern-Chat «Mehrfachbehinderung» richtet sich schweizweit an Eltern und Angehörige von Kindern und Jugendlichen mit einer Mehrfachbehinderung, die sich austauschen möchten
Können auch werdende Eltern zu Ihnen kommen, wenn sie bereits in der Schwangerschaft eine Diagnose erhalten?
Ja, in meinem Fall kommt das zum Beispiel bei Spina Bifida vor. Da tauchen dann Fragen auf wie: Kann ich für mein ungeborenes Kind noch eine Zusatzversicherung abschliessen? Muss ich der Krankenkasse die Diagnose mitteilen?
Und was raten Sie in solchen Fällen?
Ich plädiere immer für Ehrlichkeit und Transparenz. Alles andere wäre ein Betrug an der Krankenkasse – der unter Umständen auffällt, wenn die Mutter bei derselben Krankenkasse versichert ist wie das Kind.
Die Elternberatung der Stiftung visoparents
Wir stehen Ihnen bei Gesprächen mit Sozialversicherungen, Schulen und Behörden zur Seite. Wir unterstützen Sie beim Ausfüllen von Direkthilfe-Gesuchen oder beim Finden von Finanzierungslösungen.
Wie lange dürfen die Familien auf die Unterstützung der Sozialberatung zählen?
So lange, wie das Kind im Kinderspital Zürich behandelt wird, egal ob stationär oder ambulant. Wird ein Kind an ein anderes Spital überwiesen, vernetze ich die Eltern mit der dortigen Sozialberatung. Wenn ein Kind zwar weiterhin im Kispi behandelt wird, die Familie aber weit entfernt wohnt, ist es sinnvoll, eine Beratung in Wohnnähe zu finden. Pro Infirmis, Procap oder die Stiftung Cerebral können solche niederschwelligen Anlaufstellen sein.
Wenn die Kinder «nur» noch ambulant betreut werden, dürfen die Eltern sie dann zur Beratung mitbringen?
Auf jeden Fall. Das machen sehr viele Eltern. Oft ist es sogar von Vorteil für mich: Wenn es zum Beispiel um die Anpassung der Hilflosenentschädigung geht, kann ich mir gleich selbst ein Bild vom Entwicklungsstand machen. Manche Kinder sind aber so unruhig, dass die Eltern abgelenkt
sind und ein Gespräch fast nicht möglich ist. Eine Kinderbetreuung während unserer Beratungen können wir leider nicht anbieten.
An welchem Punkt sehen Sie Ihre Arbeit als abgeschlossen an?
Meine Arbeit ist abgeschlossen, wenn die Eltern sagen, dass sie meine Unterstützung nicht mehr brauchen. Manche machen die Erstanmeldung bei der IV mit mir und sind danach vollkommen selbstständig. Andere betreue ich länger. Auch wenn ich oft schwere Schicksale miterlebe, das Schönste an meiner Arbeit ist für mich, wenn ich sehe, dass ich die Familien unterstützen kann, etwas bewirken kann. Denn wenn es den Eltern besser geht, geht es auch dem Kind besser.
Adressen, die weiterhelfen
Eltern sein
Breites Wissen rund um Elternschaft:
www.swissmom.ch
Notruf und Fragen rund um Familie:
www.elternnotruf.ch, Tel. 0848 35 45 55
Kind und Behinderung
Online-Plattform für Menschen mit Behinderung: www.enableme.ch
Heilpädagogische Früherziehung, Unterstützung für Kind und Familie:
www.frueherziehung.ch
Finanzielles und Rechtliches
«Was steht meinem Kind zu?»
Ein Sozialversicherungsrecht-Ratgeber von Procap:
www.procap.ch
«Behindert, was tun?» Ein Ratgeber.
www.proinfirmis.ch/behindertwastun.html
Beratung und Entlastung:
www.cerebral.ch
Elternnetzwerke
KVEB, Netzwerk von Eltern für Eltern:
www.kindermitbehinderungen.ch
Interview: Sandra Trupo
Bilder: zvg, Adobe Stock