Neue Wege finden
Bei Mirjam Münger wurde das Usher-Syndrom diagnostiziert, das mit einer angeborenen Gehörlosigkeit und einer fortschreitenden Sehverschlechterung einhergeht. Als Kind lernte sie, mit der Gehörlosigkeit umzugehen. Nun muss sie wegen zunehmender Sehbehinderung neue Kommunikationsformen lernen.
Ich bemerkte vor etwa sechs Jahren diese einschneidende Veränderung: Das Licht hinter einer Freundin blendete mich stärker als zuvor. Bei derselben Lichtquelle hätte ich früher ihre Augen, ihre Nase und ihren Mund ausmachen können. Nun nahm ich nur noch ein tiefes Schwarz ohne Schattierungen und ohne Konturen wahr. In diesem Schwarz konnte ich nicht mehr erkennen, ob die Freundin mit mir sprach. Angst und Verzweiflung ergriffen mich. Ich dachte, ich bin in einem Horrorfilm gelandet.
«Ich dachte, ich bin in einem Horrorfilm gelandet.»
Heute bin ich 45-jährig, lebe in einer langjährigen Partnerschaft und arbeite seit 24 Jahren im sozialen Bereich. Neben meiner Tätigkeit auf der Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose (BFSUG) Bern bin ich vor zwei Jahren bei Reporter:innen ohne Barrieren (RoB) eingestiegen. Mein Job und das Schreiben von Artikeln bereiten mir Freude. Ausserdem ist ein unterstützendes Umfeld zentral. Oft sind es Kleinigkeiten, die mir helfen. Wie etwa, wenn meine Arbeitgeberin das Display vom Kopiergerät in den Dunkel-Modus ändern lässt, damit ich das Gerät bedienen kann.
Die Diagnose erhielt ich als Kind
Als Neugeborene schlief ich tief und fest, während mein Bruder im selben Raum Klavier spielte. So bemerkten meine Eltern kurz nach meiner Geburt, dass ich nichts höre. Da meine fast zehn Jahre ältere Schwester ebenfalls gehörlos ist, war meinen Eltern der Umgang mit einem gehörlosen Kind bereits vertraut. Trotzdem hatten sie damit nicht gerechnet. Sie liessen mich und meine Schwester
untersuchen. Usher-Syndrom Typ 1, lautete die Diagnose für uns beide. Sie bedeutet, dass wir neben der Gehörlosigkeit eine Sehbehinderung haben. Das Sehvermögen würde sich im Lauf der Jahre verschlechtern und könnte zur Erblindung führen, hiess es. Fachpersonen rieten meine Eltern davon ab, die Gebärdensprache zu verwenden. Daher lernte ich als Kleinkind, von den Lippen abzusehen* und in Lautsprache zu kommunizieren. Mehrere Kinder aus dem Quartier sprachen mit mir Hochdeutsch, sahen mich dabei an und wiederholten, wenn ich etwas nicht verstand. So konnten wir prima miteinander kommunizieren und spielen. Als ich älter war, entdeckte mein Vater die Vorteile des Fingeralphabets. Verstand ich ihn nicht, brauchte er kein Papier und keinen Stift, er konnte mit seiner Hand buchstabieren.
Von meiner älteren Schwester schaute ich einiges ab: Sie hatte beispielsweise ein «Schreibtelefon», ein Hilfsmittel, das aus einem Telefon, einer Tastatur und einem Display bestand. Damit konnte ich andere anrufen, die auch ein Schreibtelefon besassen. Ich erinnere mich, wie ich mit acht Jahren damit eine gehörlose Klassenkameradin anrief und wir grossen Spass hatten.
Die ersten drei Jahre kam ich in eine Schule für gehörlose Kinder. Danach wechselte ich in eine Schule für Schwerhörige und anschliessend ins Gymnasium mit den Hörenden. Dort übersetzte eine Gebärdensprachdolmetscherin sechs Lektionen für mich, in der restlichen Zeit musste ich mich mit den Unterlagen und Fachbüchern begnügen. Erst an der Fachhochschule übersetzten Gebärdensprachdolmetscher:innen an wirklich allen Vorlesungen.
Neue Fertigkeiten trainieren
Bis zu meinem 40. Lebensjahr stand die Gehörlosigkeit im Vordergrund. Gebärdensprachdolmetscher:innen reichten aus, damit ich an Weiterbildungskursen und Sitzungen teilnehmen konnte. Doch dann verstärkten sich die Symptome der Sehbehinderung so weit, dass ich bei bestimmten Lichtverhältnissen nichts mehr sehen konnte. Nachdem ich fast von einem Bus angefahren worden war, begann ich, einen weissen Stock zu benützen. Eine Rehabilitations-Fachfrau von SZBlind zeigte mir, wie ich ihn einsetzen konnte. Anfangs fiel es mir schwer, mich mit der Sehbehinderung in der Öffentlichkeit zu outen, und auch die Verwandten reagierten erschrocken, als sie mich zum ersten Mal mit dem weissen Stock sahen. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt und ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne unterwegs zu sein. Dank ihm kann ich an vertrauten Orten noch eigenständig mobil sein.
Situationen, in denen ich meine Mitmenschen nicht verstehe, häufen sich allerdings. Mit abnehmender Sehschärfe sowie abnehmender Farb- und Kontrastwahrnehmung verschwimmt der Mund des Gegenübers vor meinen Augen. Bei Angehörigen, Arbeitskolleg:innen und Freund:innen, denen ich regelmässig begegne, kann ich teilweise noch absehen. Jedoch strengt es mich an. Deswegen bevorzuge ich einen Mix aus Absehen und Gebärdensprache.
Die meisten Menschen in meinem Umfeld versuchen, sich in der Kommunikation mir anzupassen. Weil mein Gesichtsfeld stark eingeschränkt ist, lernen sie beispielsweise, nahe an ihrem Gesicht zu gebärden (visual frame Gebärdensprache). Gebärdet eine Person bei schlechtem Licht, hilft es mir, meine Hände auf die ihren zu legen, um die Gebärden zu spüren. Anfangs konnte ich nichts in der sogenannten taktilen Gebärdensprache erfassen, aber mit Übung wurde es besser.
Nähe und Distanz neu ausloten
Für mich bedeutete es erst unangenehm viel Nähe, wenn ich meine Hand auf die einer anderen Person legte. Weil ein Freund von mir diese taktile Gebärdensprache verwendet, überwand ich mich und stellte fest, dass sich mir damit eine Welt eröffnet. Mittlerweile kann ich eine persönliche Distanz wahren, wenn ich die Gebärden ertaste, ich betrachte sie nun lediglich als eine Kommunikationsform. Auch in anderen Lebensbereichen wurden Nähe und Distanz neu definiert. Lange wollten meine Geschwister und ich bei Familientreffen keine fremde Person, wie eine:n Gebärdensprachdolmetscher:in, dabei haben. Da ich aber bei Angehörigen, die die Gebärdensprache nicht beherrschen, zunehmend nicht mehr von den Lippen absehen kann, haben wir letztes Jahr erstmals eine Dolmetscherin für ein Treffen organisiert. Das Ergebnis: ich konnte viel besser verstehen, was die anderen bewegt und erfreut.
Gefühle wie Angst und Verzweiflung melden sich nur noch selten, wenn ich und mein Umfeld uns für neue Wege öffnen und neue Fertigkeiten erwerben. Lassen wir uns darauf ein, nehmen wir sie mit der Zeit nicht mehr als speziell, sondern als alltäglich wahr.
Text: Mirjam Münger, Reporterin ohne Barrieren
Foto: Michael A. Waser
* Absehen statt Ablesen
Ich bevorzuge es, von «Absehen» zu schreiben anstatt von «Ablesen». Denn Ablesen impliziert, dass von den Lippen wie von einem Buch gelesen werden kann, was jedoch nicht zutrifft. Nur 20 bis 30 Prozent der Laute können abgelesen werden, weil viele Laute ähnlich aussehen, wie zum Beispiel «b», «p» und «m», und die Kehllaute «ch», «g», «k» gar nicht sichtbar sind. Demgemäss müssen Menschen, die absehen, aus vielen einzelnen Bruchstücken einen Zusammenhang konstruieren – was sehr anstrengend ist.