«Wir sind alle einzigartig,
und das ist gut so»
Kinder und Jugendliche mit Brandverletzungen oder Hauterkrankungen fallen auf. Ornella Masnari unterstützt sie im Umgang mit ihrer Besonderheit und berät Eltern, wie sie Übergänge wie einen Start im Kindergarten erfolgreich gestalten. So viel vorweg: die Drei-Punkte-Strategie ist häufig hilfreich.

Dr. phil. Ornella Masnari ist Klinische Fachpsychologin und
Psychotherapeutin am Universitäts-Kinderspital Zürich –
Eleonorenstiftung. Sie berät Kinder und Jugendliche sowie
deren Angehörige im Umgang mit körperlichen Besonderheiten,
etwa bei dermatologischen Erkrankungen, Brandverletzungen
oder Handfehlbildungen. Vor über zehn Jahren hat sie die Hautstigma-Initiative gegründet, eine Initiative zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Hautbesonderheiten: www.hautstigma.ch. Ab Sommer 2025 wird diese Initiative eine grössere Zielgruppe ansprechen und mit neuem Namen auftreten: www.gemeinsam-einzigartig.ch
Ornella Masnari, Sie beraten Kinder und Jugendliche, die mit einer körperlichen Besonderheit leben. Mit welchen konkreten Anliegen kommen sie jeweils auf Sie zu?
Ornella Masnari: Ich sehe häufig junge Menschen mit Brandverletzungen, dermatologischen Erkrankungen wie Feuer- und Riesenmuttermalen, Vitiligo, Haarausfall oder Handfehlbildungen. Je nach Fragestellung unterstütze ich sie im Umgang mit der Erkrankung, bei der Vorbereitung auf
einen medizinischen Eingriff oder bei krankheitsbedingten Belastungen im Familien- oder Schulalltag. Oft berate ich auch Eltern von sehr kleinen Kindern, die bei der Geburt von einer körperlichen Besonderheit «überrascht» wurden und dies zu verarbeiten haben. Zudem helfe ich bei der Vorbereitung des Kindergarteneintritts oder bei einem Schulwechsel, da bei solchen Übergängen häufig Fragen aufkommen.
Wie bereitet man den Kindergarteneintritt für ein Kind mit einer körperlichen Besonderheit denn am besten vor?
Das ist individuell. Meistens finde ich in einem Gespräch mit den Eltern heraus, wie gut sie die anderen Eltern und Kinder bereits kennen und wer informiert werden soll. Wir entwickeln zusammen eine Strategie, wen sie informieren möchten und welche Worte sie gebrauchen wollen – denn für die Wahrnehmung der anderen ist es wichtig, wie man eine körperliche Besonderheit benennt. Generell empfehle ich bei Einschulungen und Schulwechseln eine proaktive Kommunikation.
Weshalb?
Wenn Eltern proaktiv informieren, haben sie unter Kontrolle, welche Informationen sie in welcher Form
weitergeben. Es ist sinnvoll, bereits vor den Sommerferien mit den Lehrpersonen in Kontakt zu treten und im Gespräch das Vorgehen zu planen. Der Elternabend ist beispielsweise eine gute Gelegenheit, die anderen Eltern zu informieren und Fragen zu beantworten. Den Eltern der anderen Kinder wiederum hilft es, wenn sie eine Erklärung erhalten, damit sie wissen, wie sie auf mögliche
Fragen ihrer eigenen Kinder antworten können. Besucht das Kind einen Hort oder eine schulische Tagesbetreuung, empfehle ich, ein schriftliches Merkblatt abzugeben, sodass allenfalls auch neue Mitarbeiter:innen die Informationen erhalten.
«Die Akzeptanz von Diversität zu fördern, liegt in der kollektiven Verantwortung.»

Welche Infos sollte man denn preisgeben?
Kindergartenkinder sind meistens unvoreingenommen. Möglichst einfache, anschauliche Erklärungen reichen da aus, etwa dass der grosse rote Fleck ein angeborenes Muttermal ist. Wichtig ist oft auch, zu beruhigen oder mögliche Bedenken anzusprechen, etwa zu sagen, dass es nicht weh tut oder nicht ansteckend ist. Es hilft dem Verständnis der anderen Kinder, wenn sowohl die Eltern wie auch die Lehrpersonen eine körperliche Besonderheit immer mit den gleichen Worten erklären.
Angenommen, mein Kind wird auf dem Spielplatz aufgrund einer körperlichen Besonderheit von anderen gemieden. Wie soll ich reagieren?
Pauschalantworten sind schwierig. Es kommt darauf an, ob es Kinder aus der Nachbarschaft oder fremde Kinder sind. Bei Kindern aus der Nachbarschaft lohnt es sich, das Gespräch zu suchen, sie aufzuklären und ihnen die Ängste zu nehmen – so können sich Freundschaften entwickeln. Bei fremden Kindern, die man wahrscheinlich nie mehr sehen wird, ist es auch okay, das Verhalten zu ignorieren und sich darauf zu konzentrieren, dass das eigene Kind Spass auf dem Spielplatz hat. Dies natürlich nur solange sich das eigene Kind nicht daran stört.
Wie würde ein solches Gespräch mit Nachbarskindern denn ablaufen?
Wenn es kleine Kinder sind, können Sie mit Ihrem Kind auf sie zugehen und sagen: «Hallo, das ist Max. Wie heisst denn du? Wollen wir zusammen spielen?» Wenn das andere Kind mit grossen Augen die Besonderheit betrachtet, würde ich es ansprechen. Beispielsweise so: «Oh, du hast das
Feuermal entdeckt. Max ist damit zur Welt gekommen. Keine Sorge, es tut überhaupt nicht weh.» Nach einer kurzen Erklärung können Sie das Thema wechseln und beispielsweise ein neues gemeinsames Spiel vorschlagen.
Funktioniert das immer?
Meistens. Diese Drei-Punkte-Strategie rate ich vielen. Also: erstens die Besonderheit kurz erklären, zweitens beruhigen und sagen, es sei nicht ansteckend oder schmerzhaft, und drittens, aktiv das Thema wechseln und Gemeinsamkeiten betonen.
Manchmal sagen fremde Kinder oder Jugendliche böse Dinge. Wie reagiert man adäquat darauf?
Da würde ich deutlich, aber freundlich reagieren – auch wenn das manchmal schwerfällt. Etwa so: «Hey, wir mögen es nicht, wenn jemand ‹igitt› sagt. Dieser rote Fleck gehört zu Max, das ist nichts Störendes!» Ich finde es wichtig, dass das betroffene Kind sieht, dass man sich wehren darf. Allerdings hilft es auch, zu verstehen, dass die Reaktion der Kinder meistens nicht böse gemeint ist. Manchmal reagieren Menschen einfach mit Distanz oder Ekel auf Dinge, die sie vorher noch nie gesehen haben.
Sie begleiten Jugendliche auch bei der Entscheidungsfindung, ob sie eine körperliche Besonderheit, etwa ein Riesenmuttermal, operativ entfernen lassen sollen. Entscheiden sie sich eher für oder gegen solche Eingriffe?
Unterschiedlich. Früher glaubte man, dass diese Muttermale ein erhöhtes Krebsrisiko mit sich bringen, und hat schon deshalb meistens operiert. Mittlerweile hat man das Entartungsrisiko relativiert und die individuellen Wünsche von Betroffenen sind ausschlaggebender. Es gibt mittlerweile auch Bewegungen, beispielsweise in sozialen Netzwerken, in denen Personen ihre körperlichen
Besonderheiten als etwas Positives hervorheben – und stolz darauf sind. Hinzu kommt, dass das Thema ‹Diversität› generell präsenter wird, so auch in der Mode- oder Filmbranche. Ich persönlich spüre schon einen gewissen Trend hin zu grösserer Akzeptanz von Diversität.
Die von Ihnen gegründete Hautstigma-Initiative hat unter anderem das Ziel, in der Öffentlichkeit Vorurteile abzubauen. Was braucht es konkret, damit Vorurteile verschwinden?
Vorurteile abbauen und die Akzeptanz von Diversität zu fördern, liegt in der kollektiven Verantwortung. Das heisst, Themen wie Diversität und Inklusion müssten in Schulen, Vereinen und in der Elternbildung gezielt breiter thematisiert werden. Es kann aber auch jede Einzelperson dazu beitragen, etwa indem Eltern mit ihren Kindern aktiv über diese Themen sprechen, Gemeinsamkeiten betonen, eine achtsame Sprache verwenden und vermitteln: Wir sind alle einzigartig, und das ist gut so!
Interview: Regula Burkhardt
Foto: zvg, AdobeStock