open
Fokus: Diagnose

Ein ganzer Blumenstrauss an Diagnosen

Diagnosen hat Max in seinem Leben zahlreiche erhalten. Mal waren sie hilfreich, mal weniger. Die einen wurden sensibel überbracht, andere ohne Fingerspitzengefühl. Mittlerweile hat sich die Familie Wüthrich mit allen versöhnt.

magazin-imago-diagnose-mama-bloggt

Ein ganzer Blumenstrauss
an Diagnosen

Diagnosen hat Max in seinem Leben zahlreiche erhalten. Mal waren sie hilfreich, mal weniger. Die einen wurden sensibel überbracht, andere ohne Fingerspitzengefühl. Mittlerweile hat sich die Familie Wüthrich mit allen versöhnt.

Es ist so eine Sache mit Diagnosen: Sie sind Fluch und Segen gleichermassen. Einerseits sind sie wahnsinnig schwer zu verkraften, andererseits geben sie den ganzen Ungewissheiten endlich einen Namen. Und vielleicht geben sie einem auch die Möglichkeit, etwas zu verändern oder zu verbessern. Sie zeigen aber auch auf, dass etwas anders ist, nicht in die Schublade «normal» passt. Damit umzugehen und die Situation zu akzeptieren, wie sie ist, ist nicht immer einfach.

Max hat einen ganzen Blumenstrauss an Diagnosen. Seine lange Geburt gipfelte in einem Notkaiserschnitt und als er dann endlich da war, waren seine Apgar-Werte besorgniserregend, wurden aber anfangs auf die lange Geburt zurückgeführt. Das Kind kam ja schliesslich zum errechneten
Termin zur Welt, Gewicht und Grösse passten und auch sonst war vorgeburtlich von keinen Schwierigkeiten auszugehen. Damals müde, noch keine Stunde Eltern und wohl auch etwas naiv, machten wir uns keine Gedanken, als es hiess, er müsse zur Überwachung für die nächsten Stunden
auf die Neonatologie gebracht werden. Am Morgen würden sie ihn zu mir ins Zimmer verlegen. Der Morgen kam, eine ahnungslose Pflegefachfrau gratulierte zum Baby und meinte, es könne bald ins Zimmer geholt werden. Daraus wurde nichts. Etwas zerknirscht meinte sie wenig später, sie müsse mir nochmals Blut abnehmen. Irgendwann fuhr sie mich in meinem Bett in die Neonatologie, wo mir eine vorbeieilende Ärztin kurz und knapp sagte: «Ihr Kind muss jetzt sofort ins Kispi, es hat einen schweren Herzfehler.»

Manchmal zog es uns den Boden unter den Füssen weg

Die weiteren Diagnosen wurden etwas klarer und auch professioneller kommuniziert. Als Erste diagnostizierten die Kardiologen Fallot’sche Tetralogie. Nie gehört. So hatten wir uns das nicht vorgestellt. Auch nicht nachdem die Herzkatheter-Untersuchung nicht den gewünschten Erfolg
brachte und der nächste Termin zum Herzchirurgen führte. In Max’ Unterlagen gibt es eine Handskizze vom Herz, mit der der Chirurg damals aufzeigte, was fehlte und was er zu tun gedenke.

Als Max nach erfolgreicher grosser OP zurück auf der Station war, rieten uns die Ärztinnen und Ärzte, unbedingt einen Termin, bei der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie zu vereinbaren. Sie gingen davon aus, das Kind höre nicht gut und auch beim Sehen müsse man von Einschränkungen ausgehen. Ob da noch mehr sei, könnten sie im Moment nicht sagen. Irgendwann im Laufe der Zeit kamen dann noch die Diagnosen Hodenhochstand, schwacher Muskeltonus, Entwicklungsverzögerung und, viel später, auch Autismus-Spektrum-Störung sowie ein nicht existierendes Gleichgewichtsorgan dazu.

Die ersten zwei Jahre von Max’ Leben fühlten sich an, als wanderten wir von Termin zu Termin, und bei jedem kam etwas Neues hinzu. Manche Diagnosen nahmen wir eher unberührt zur Kenntnis, andere zogen uns den Boden unter den Füssen weg, dritte liessen uns ratlos zurück. Oftmals hätten wir uns gewünscht, mal keine zusätzliche Diagnose zu erhalten. Es gab Zeiten, da war mir alles zu
viel und ich hätte am liebsten bei jedem mir auf der Strasse entgegenkommenden Kinderwagen gebrüllt: «Wieso ich, wieso nicht du? Lasst mich bloss alle in Ruhe mit euren gesunden Kindern und glücklichen Familien!»

Es war purer Zufall

Irgendwann kam das Thema «übergeordnete Diagnose» auf. «Wenn so viele Diagnosen zusammentreffen, so muss von einem genetischen Defekt ausgegangen werden und vielleicht gibt es dazu auch einen eigenen Namen», sagte uns der Arzt und bat uns, einen Termin bei den Spezialist:innen für Genetik am Universitäts-Kinderspital zu vereinbaren. Dies war einer der Momente, in denen wir uns wirklich fragten, was uns eine weitere, wenn auch übergeordnete Diagnose überhaupt bringen sollte. Wir hatten schon x Diagnosen, Hilfsmittel, Therapien und IV-Verfügungen. Da ändert sich für Max jetzt auch nicht wirklich etwas, wenn wir noch einen Namen mehr dazuschreiben. Der Kinderarzt hingegen sagte: «Sie haben völlig recht, an Max ändert das nichts, er ist genau so, wie er ist. Aber uns Ärztinnen und Ärzten helfen solche Diagnosen manchmal,
auch Nebenschauplätze, nicht sichtbare mögliche Probleme, rechtzeitig zu erkennen.»

mama-bloggt-blog-diagnose-imago
Ja, auch Zwillinge sind Zufall.

Mein Mann und ich willigten also ein. Daraufhin verbrachte eine junge Ärztin am Kinderspital eine Ewigkeit damit, unseren Stammbaum zu erfassen, Fragen zu stellen und Fotos zu machen. Irgendwann streckte ein Professor den Kopf ins Zimmer, schaute uns kurz an, warf einen Blick auf
den ersten Befund und meinte: «Gut, wenn man in Ihrem Alter noch Vater werden will, ist das halt ein Risiko.»

Mit dieser Aussage, der Verdachtsdiagnose Charge-Syndrom sowie dem Hinweis, wir sollten jetzt bloss nicht googeln, sondern die Rückmeldung vom Labor in Holland in rund drei Monaten abwarten, fanden wir uns Stunden später leicht verwirrt auf der Strasse wieder. Wir schauten uns an, befanden, dass wir uns mit 35 eigentlich nicht zu alt für Kinder fühlten und dass wir Charge-Syndrom in jeden Fall googeln würden.

Geholfen hat uns diese eine Diagnose, die erst Monate später bestätigt wurde, nicht wirklich. In den letzten Jahren haben wir uns mit ihr und allen anderen versöhnt, es ist, wie es ist. Lediglich auf die Familienplanung hatte sie einen Einfluss, weil wir wissen wollten, ob dies alle unsere möglichen Kinder betreffen würde oder ob sowas einfach Zufall ist. Und ja, tatsächlich ist es Zufall, genauso wie
Zwillinge Zufall sind, die drei Jahre später zur Welt kamen. Dazu hatten wir dann pränatal doch mehr Fragen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Text und Fotos: Marianne Wüthrich

Marianne-Wüthrich

Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents

In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.

Themen

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert