«Ja, wir fallen auf!»
Eine unsichtbare Behinderung? Viele Menschen wissen nicht, dass es das gibt. Marianne Wüthrich muss sich deshalb oft erklären und wehren, wenn sie mit ihrem Sohn Max, der Autismus hat, unterwegs ist – sei das im ÖV, auf dem Campingplatz oder auch nur im Laden um die Ecke.
In diesem Heft dreht sich alles um ADHS, na ja, fast alles. Diese Kolumne nicht. Bisher konnte ich zu fast allen Fokus-Themen dieses Magazins etwas schreiben – da unsere Familie meist ebenfalls davon betroffen ist. Dass es diesmal anders ist, überrascht mich. Aber eine ADHS-Diagnose hat Max tatsächlich nicht. Er hat aber eine Autismus-Diagnose (ASS). In manchen Teilen gleichen sich die Beschreibungen von ADHS und ASS, wobei es wie bei all diesen Diagnosen ganz viele unterschiedliche Formen davon gibt. Beide jedoch sind unsichtbare Behinderungen – was oft zu viel Unverständnis unter den Mitmenschen führt.
Was ADHS und ASS gemeinsam haben: Davon betroffene Kinder fallen oft auf. Als Max klein war, lag oder sass er eher unauffällig im Kinderwagen. Wer einen Blick reinwarf, bemerkte nicht viel Ungewöhnliches. Bei näherem Betrachten fielen vielleicht die ungleich grossen Augen und später
die Hörgeräte auf. Beim Babyschwimmen war’s die grosse Narbe über den ganzen Brustkorb und dass Max seinen Kopf nur schwer selbst hochhalten konnte. Als Max drei Jahre alt war, kamen Tom und Leo dazu. Fortan war «nicht auffallen» quasi unmöglich. Spazierte ich mit drei Kindern in einem Kinderwagen durch die Gegend, stellte man mir oft die Frage: Sind das Drillinge? Max war und ist ein eher kleines Kind. Noch heute wird er grundsätzlich für den jüngeren Bruder der Zwillinge gehalten.
Angestarrt werden gehört schon fast zum Alltag
Max konnte erst sehr spät selber frei gehen. Aufgrund seiner Grösse fiel das kaum auf. Als er aber mit fünf, sechs Jahren noch immer nicht wirklich frei gehen konnte oder dies schwankend im Zickzack tat, wurde es auffällig. Häufig wollte er auf keinen Fall mehr die Hand halten. Da aber akute Sturzgefahr ohne Aufprallabwehr bestand, mussten wir das Kind an ein Sicherheitsseil nehmen, um einen Sturz
zumindest auffangen zu können. Das war oft ein Grund, dass wir neugierige Blicke ernteten. Auch auf dem Eisfeld waren wir gelinde gesagt nicht davon verschont. Wenn das doch recht grosse Kind noch immer ein Eislauf-Hilfe-Tier brauchte, dazu kein Wort sprach, dann schauten doch einige Eisläufer:innen neugierig, teils so extrem, dass der Götti am Ende des Tages fragte: «Wow, werdet ihr immer so angestarrt?» Werden wir das? Fällt mir schon gar nicht mehr auf.
Max stampft, winkt wild herum, schlägt sich oft selbst, macht laute, schreiende Geräusche oder heult wie ein Schlosshund, inklusive Krokodilstränen. Mittlerweile sitzt er nicht mehr klein und herzig im Wagen, sondern steht neben mir, ist fast so gross wie ich und nicht zu übersehen. Beim Einkaufen wurden wir schon unzählige Male blöd angemacht, der Junge müsse halt mehr raus und sich bewegen
können, dann hätte der auch keine so schlechte Laune und müsste sich nicht auffällig benehmen. Da bräuchten wir auch keine Extrawurst mit Hund im Laden. Die richtig guten Antworten auf solche Aussagen fallen mir leider oft erst viel später ein.
Klar, mit dem grossen schwarzen Begleithund fallen wir erst recht auf. Und trotzdem muss ich im ÖV immer wieder laut und deutlich einen Platz für Max einfordern. Unbeschreiblich auch die hochgezogenen Augenbrauen, wenn wir zu dritt, mit Hund, aus einer Toilette kommen. Es gibt auch
kritische Blicke, weil der Junge immer ein Tablet dabeihat, auch am Tisch im Restaurant. Wieder so Eltern, die das Kind mit Computer ruhigstellen, statt sich mit ihm zu beschäftigen! Auch auf dem Campingplatz müssen wir uns immer wieder erklären, wenn wir die grössere Dusche in Anspruch nehmen, da nicht auf den ersten Blick klar ist, was Max fehlt. Aber im Ernst: Wer würde denn bitte mit dem Teenager freiwillig die Dusche teilen wollen? Ohne Grund?

Mit Sonnenblume Klarheit schaffen
Es gibt natürlich auch viele Menschen, die nett reagieren, wenn sie merken, dass ich zwar mit Max spreche, aber keine Antwort bekomme, die fragen, ob sie helfen können. Uns auch mal den Vortritt beim Anstehen lassen, weil Max das Warten nur schwer erträgt. Aber ans Auffallen muss man sich schon gewöhnen und sich eine dicke Haut zulegen.
Der Hund ist übrigens vor Kurzem in Pension gegangen, bleibt aber zum Glück als Familienhund bei uns. Max fällt trotzdem noch auf. Er trägt jetzt einen Sonnenblumen-Lanyard, der symbolisiert, dass er eine unsichtbare Behinderung hat. Max hofft, dass damit zumindest im ÖV auch mal jemand aufsteht, ohne dass seine Mutter schon wieder peinlich auffällt und für ihn einen Platz einfordert.
Text und Fotos: Marianne Wüthrich

Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents
In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.

