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Fokus: ADHS

«Nur wer begreift, was ADHS bedeutet, kann dem Kind helfen»

Als Coach berät Roger Vogt Kinder und Jugendliche mit ADHS und lehrt sie, ihre vermeintlichen Schwächen als Stärken zu nutzen. Er hält auch etliche Strategien für Eltern bereit, die in der Erziehung ihrer Kinder (verständlicherweise) an Grenzen stossen. Im Interview gibt er Einblick in seine Arbeit.

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«Nur wer begreift,
was ADHS bedeutet,
kann dem Kind helfen»

Als Coach berät Roger Vogt Kinder und Jugendliche mit ADHS und lehrt sie, ihre vermeintlichen Schwächen als Stärken zu nutzen. Er hält auch etliche Strategien für Eltern bereit, die in der Erziehung ihrer Kinder (verständlicherweise) an Grenzen stossen. Im Interview gibt er Einblick in seine Arbeit.

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Roger Vogt ist ADHS-Coach in Baar und spezialisiert auf Kinder
und Jugendliche. Er berät auch Eltern von betroffenen Kindern
und bietet Weiterbildungen für Lehrpersonen an. Ursprünglich
absolvierte Vogt eine Lehre als Konditor/Confiseur. Danach
arbeitete er unter anderem bei der Schweizergarde im Vatikan
und bildete sich später zum Sozialpädagogen HF weiter. Seine
eigene ADHS-Diagnose erhielt er 2019, in seinem 42. Lebensjahr. Gleichzeitig wurde beim mittleren seiner drei Kinder ADHS diagnostiziert. Diese Erfahrung führte dazu, dass sich Roger Vogt zum ADHS-Coach weiterbildete.
www.coach-adhs.ch

Roger Vogt, mit welchen Problemen kommen Kinder und Jugendliche mit ADHS sowie deren Eltern auf Sie zu?

Roger Vogt: Wenn ich kontaktiert werde, sind meistens bereits viele Konflikte vorhanden. In den Familien herrscht manchmal ein grosser Widerstand gegen die kleinsten Dinge, die die Kinder machen müssten, etwa gegen Hausaufgaben oder ein kleines Ämtli. Bei den Jugendlichen ist aktuell der stundenlange Medienkonsum ein grosses Problem. Das führt zu Krisen oder gar ausgewachsenen Eskalationen. Kinder und Jugendliche mit ADHS sind oft sehr starke Persönlichkeiten. Hinzu kommt: ADHS ist genetisch bedingt, und es sind häufig weitere Familienmitglieder davon betroffen, manchmal ohne es zu wissen.

Kindern mit ADHS wird oft vorgeworfen, dass Sie schon könnten, wenn sie nur wollten.

Es ist schon so, dass Personen mit ADHS sehr schnell lernen, wenn sie das Thema interessiert. Dann blenden sie alles andere aus und können sich extrem gut konzentrieren. Das nennt man Hyperfokus. Umgekehrt können sich Kinder mit ADHS für Dinge, die sie nicht interessieren, kaum aufraffen. Da nützt auch langes Zureden nichts und das wiederum überfordert Lehrpersonen und Eltern.

Und trotzdem müssen mühsame Dinge gemacht werden. Beispielsweise die Hausaufgaben. Hierbei unterstützen Sie als Coach. Wie bringen Sie denn die Kinder dazu, Hausaufgaben zu erledigen?

Wichtig zu wissen ist, dass bei Kindern mit ADHS unter anderem der präfrontale Kortex im vorderen Bereich des Gehirns in seiner Entwicklung um rund drei bis fünf Jahre verzögert ist im Vergleich zu anderen Kindern im gleichen Alter. Das bedeutet, dass sie stärker nach dem Lustprinzip funktionieren und die Emotionsregulation und die Impulskontrolle weniger weit entwickelt sind. Jüngere Kinder versuche ich deshalb abzuholen, indem ich sie frage, was ihnen gefällt und was nicht. Sie formulieren
dann beispielsweise, dass sie keine Lust haben, Hausaufgaben zu machen. Dann begebe ich mich auf die Ebene des Kindes, zeige Verständnis und sage: «Ich verstehe, dass du dazu keine Lust hast. Leider müssen wir sie trotzdem machen.» Das Kind und ich können uns gemeinsam über die Hausaufgaben ärgern – und sie dann aber trotzdem erledigen. Das ist eine spielerische Methode. Solange das Kind in der Emotion ist, bringen Erklärungen oder Drohungen nichts – zuerst holen wir es mit Verständnis ab, erst danach kann der Fokus wieder auf die eigentliche Aufgabe gerichtet werden.

Sie haben den manchmal exzessiven Medienkonsum von Jugendlichen bereits angesprochen. Angenommen, mein Kind mit ADHS im Teenager-Alter spielt ein Game. Wie bringe ich es ohne Streit dazu, die Konsole auszuschalten?

Ich arbeite gerne mit dem pädagogischen Konzept von Haim Omer und zeige anhand seiner Grundlagen auf, was Konflikte schüren und wie man den Konflikt zielführend beruhigen kann, also beharrlich bleiben, ohne gewinnen zu müssen. (Haim Omer ist Psychologe und hat das Konzept einer neuen Autorität entwickelt [Anm. d. Red].) Als Erstes muss ich mich damit auseinandersetzen, welches
Game das Kind spielt. Ist es eines, bei dem es ein Level abschliessen kann, oder eines, das endlos weiterläuft? Ich empfehle, die Game-Zeit diesen Merkmalen anzupassen, die Zeit zu stoppen und früh genug zu sagen, dass die Zeit bald abgelaufen ist. Wenn es so weit ist, sage ich kurz, knapp, aber freundlich «ausschalten». Haim Omer geht davon aus, dass, wenn wir Geschwätzigkeit vermeiden, wir eher ans Ziel kommen und weniger Emotionen und Gehässigkeit entstehen. Hier braucht es eben Eltern, die beharrlich begleiten.

Angenommen, das Kind stellt trotzdem nicht ab.

Dann komme ich als Vater wieder und sage: «Die Zeit ist um. Ausschalten.» Das kann sich oft wiederholen. Bleiben Sie ruhig, aber beharrlich und freundlich. Lassen Sie dem Kind und sich Zeit. Irgendwann wird das Kind die Konsole ausschalten. Mein Tipp: Bedanken Sie sich kurz und knapp dafür, dass es abgestellt hat. Richten Sie den Fokus auf das, was das Kind richtig gemacht hat, also abstellen, und versuchen Sie, diesen Teil des «Konflikts» positiv zu verstärken, indem Sie es dem Kind zurückmelden.

Auch wenn es ewig gedauert hat?

Selbst dann. Kinder mit ADHS hören bis zu ihrem zwölften Lebensjahr rund zwanzigtausendmal Sätze wie: «Hör auf!», «Ich habe dir doch gesagt, dass …!», «Warum hast du schon wieder nicht …?» Das ist frustrierend und führt zu einer Negativspirale. Wenn ich als Vater zehnmal sagen muss «ausschalten» und am Ende, wenn es dann klappt, mich dafür bedanke, kann ich das Positive hervorheben und das Kind darin bestärken, dass es im Konflikt etwas richtig gemacht hat. So rückt nicht das Problem in den Vordergrund, sondern der Erfolg. Wenn dies wiederholt auch in anderen Situationen gelingt, dann wird das langfristig ein Gewinn für alle sein. Zugegeben, es braucht viel Energie, aber die Strategie ist erfolgreich.

Nochmals zurück zu den Hausaufgaben. Diese sind oft Grund für Konflikte, weil Kinder mit ADHS unter anderem Mühe haben, sie vollständig und pünktlich zu erledigen. Wie können Eltern ihr Kind hierbei unterstützen?

Ich möchte vorausschicken, dass man als Vater oder Mutter keine Hilfslehrperson ist – und dies von sich auch nicht erwarten soll. Eltern können aber unterstützen, indem sie beim Hausaufgabenmachen präsent sind. Hausaufgaben brauchen feste Zeitfenster – wie ein Hobby: Das Kind weiss genau, wann das Zeitfenster beginnt und wann es endet. Oft hilft es, grössere Aufgaben in mehrere kleine zu unterteilen und sie Stück für Stück mit dem Kind anzugehen. Wenn die Bemühungen fruchten und das Kind selbstständiger wird, können die Erwachsenen die Begleitung etwas lockern. Merken sie aber, dass das Kind in alte Muster zurückfällt, müssen sie es wieder enger begleiten. Viele Kinder verlieren sich, wenn sie selbstständig Hausaufgaben machen – besonders bei spannenderen Reizen. Klare,
beharrliche Begleitung ist deshalb entscheidend.

Wann sollten Eltern Hilfe holen?

Dann, wenn sie merken, dass sie ihrem Kind mehrmals am Tag oben genannte Sätze sagen wie: «Jetzt hast du wieder nicht …» Spätestens aber dann, wenn die Situation eskaliert oder gar die Hand ausrutscht oder ein Leidensdruck vom Kind erkennbar ist.

Und wann sollten betroffene Kinder und Jugendliche Hilfe suchen?

Wenn sie das Gefühl haben, sie seien anders als andere. Jugendliche mit ADHS berichten mir häufig, sie hätten das Gefühl, gegen den Strom zu schwimmen und mehr Aufwand in Dinge stecken zu müssen als andere.

Was kann eine Schule tun, damit es ein Kind mit ADHS einfacher hat?

Wichtig wäre, dass sich Lehrpersonen gezielt in ADHS weiterbilden. ADHS muss man verstehen, damit man richtig damit umgehen kann. Oft werden von den Kindern Dinge erwartet, die sie aufgrund ihres ADHS gar nicht bewerkstelligen können. Nur wer begreift, was ADHS bedeutet und wie ein Kind mit dieser Entwicklungsstörung funktioniert, kann ihm helfen.

Die Abgabe von ADHS-Medikamenten wird in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Was ist Ihre Erfahrung?

Viele Kinder und Jugendliche, mit denen ich zusammenarbeite, werden parallel mit ADHS-Medikamenten behandelt. Ich nehme selber ADHS-Medikamente ein und bin über die Ruhe im Kopf sehr erleichtert. Eine Medikation muss aber immer von einer Ärztin, einem Arzt verschrieben und begleitet werden. Wichtig ist, dass es nie als alleinige Therapie eingesetzt, sondern durch ein Coaching, eine Psycho- oder andere Therapie begleitet wird. Medikation ist ein Hilfsmittel – wie eine Krücke: Sie unterstützt, entlastet und hat durchaus ihre Berechtigung, ersetzt aber nicht die Förderung von Fähigkeiten.

Welche alternativen Therapien können Ihrer Erfahrung nach hilfreich sein?

Das ist individuell. Es gibt zahlreiche Therapieansätze, welche ihre Berechtigungen haben, und es ist durchaus sinnvoll, sich in diesem Angebot umzuschauen und etwas zu suchen, was einen anspricht. Letztendlich ist es wichtig, neue Wege zu gehen und eine Veränderung anzustossen. Generell rate ich aber, darauf zu achten, dass der/die Therapeut:in Erfahrung mit ADHS hat. Das gilt für die Schulmedizin genauso wie für den alternativen Bereich.

Angenommen, Eltern, Lehrpersonen, Therapeut:innen und das Kind mit ADHS machen alles richtig. Was wäre dann das Beste aller Ergebnisse im Erwachsenenalter?

Läuft alles gut, dann wird aus einem unaufmerksamen, hibbeligen Kind eine selbstbewusste, reflektierte Person voller Potenzial, die weiss, was sie kann, aber auch weiss, was sie nicht kann und keine Mühe damit hat, sich Hilfe zu organisieren. Wer lernt, mit seinem ADHS umzugehen, gewinnt Selbstvertrauen, nutzt seine Stärken bewusster und gestaltet sein Leben strukturierter, gelassener und erfolgreicher mit deutlich weniger Leidensdruck.

Interview: Regula Burkhardt
Foto: zvg, Adobe Stock

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