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Fokus: ADHS

Wenn Kinder und Jugendliche mit Autismus ihre Geschlechtsidentität infrage stellen

Neuste Studien deuten darauf hin, dass sich neurodivergente Menschen häufiger mit Queersein beschäftigen als andere. Die Stiftung visoparents organisiert am 13. März 2026 dazu eine Tagung. Tanja Schenker, Referentin, Psychologin und Spezialistin für Kinder und Jugendliche mit Autismus und Genderthematik, gibt im Interview Einblick in dieses Thema.

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Wenn Kinder und
Jugendliche
mit Autismus ihre
Geschlechtsidentität
infrage stellen

Neuste Studien deuten darauf hin, dass sich neurodivergente Menschen häufiger mit Queersein beschäftigen als andere. Die Stiftung visoparents organisiert am 13. März 2026 dazu eine Tagung. Tanja Schenker, Referentin, Psychologin und Spezialistin für Kinder und Jugendliche mit Autismus und Genderthematik, gibt im Interview Einblick in dieses Thema.

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Tanja Schenker (lic. phil.) ist eidgenössisch diplomierte
Psychotherapeutin/Psychologin FSP und spezialisiert auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Autismus-Spektrum mit Genderthematik. Sie arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis im Seefeld Zürich sowie an der Sprechstunde Geschlechtsidentität der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. www.praxisautismuszuerich.ch

Tanja Schenker, neue Studien zeigen, dass sich neurodivergente Personen häufiger nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren als neurotypische. Wie erklärt man sich diesen Zusammenhang?

Tanja Schenker: Man geht davon aus, dass Varianten der Geschlechtsidentität bei neurodivergenten Personen häufiger vorkommen als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Allerdings gibt es noch sehr wenige Studien zu diesem Thema. Auch der Zusammenhang ist bisher wenig erforscht. Es gibt mehrere Thesen: Es könnte ein biologischer Zusammenhang bestehen, weil man festgestellt hat,
dass es in Familien, in denen Autismus vorkommt, auch mehr queere Menschen gibt. Es existiert aber auch die soziale Erklärung. Diese besagt, dass, wenn sich Menschen sowieso nicht an den sozialen Normen orientieren wollen oder können, wie dies bei neurodivergenten Personen oft der Fall ist, sie sich auch den geschlechtstypischen Normen weniger stark beugen.

Sie beraten Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum mit Geschlechtsinkongruenz. Mit welchen Fragen kommen diese Jugendlichen denn zu Ihnen?

Einige haben das Gefühl, nicht dem ihnen zugewiesenen Geschlecht anzugehören, und möchten mit meiner Hilfe herausfinden, welche Geschlechtsidentität sie haben. Viele hadern damit und benötigen Unterstützung in der Selbstakzeptanz oder sie haben sehr konkrete Fragen bei der Umsetzung im Alltag. Die Thematik taucht meistens während oder nach der Pubertät auf. Andere haben sich diese Fragen längst selbst beantwortet und benötigen Unterstützung bei einer medizinischen oder
sozialen Transition. (Medizinische Transition: die körperlichen Geschlechtsmerkmale werden durch medizinische Behandlungen dem gefühlten Geschlecht angeglichen. Soziale Transition: Coming-out im sozialen Umfeld. [Anm. d. Red.])

Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei einer sozialen Transition, einem Coming-out, aufgrund des Autismus?

Für Menschen im Autismus-Spektrum ist es oft schwieriger, einzuschätzen, wie das Umfeld auf ein
Coming-out reagieren wird. Manche haben zudem Mühe, sich zu organisieren, und vielen bereitet die Kommunikation Schwierigkeiten. Ich unterstütze die Personen deshalb bei der gesamten Planung und Organisation der Transition und kläre mit ihnen ab, wer als Erstes informiert werden muss, was man sagen will und wie man es sagen will. Zudem helfe ich ihnen, die passenden Anlaufstellen zu finden. Wenn sich Menschen mit Autismus bei der Transition unterstützen lassen, entstehen weniger Missverständnisse, als wenn sie sie alleine durchführen.

Welche Missverständnisse könnten denn entstehen?

Ich erlebe häufig, dass Menschen im Spektrum die Situation mit sich selbst längst geklärt haben und beispielsweise genau wissen, dass sie lieber als das andere Geschlecht leben wollen. Sie informieren dann die Eltern über ihren Entscheid und gehen davon aus, dass nach dieser Information alles geklärt ist. Die Eltern und Geschwister jedoch sind zu diesem Zeitpunkt oft noch nicht so weit und haben viele
Fragen. Sie fühlen sich überrumpelt. Meine Aufgabe ist es dann, den Jugendlichen mit Autismus aufzuzeigen, was das Umfeld noch nicht versteht, wo es noch mehr Kommunikation braucht, aber auch, womit sie selbst sich noch auseinandersetzen müssen.

Wie reagieren Ihrer Erfahrung nach gleichaltrige Freundinnen und Freunde auf ein Coming-out?

Wenn die Betroffenen das Coming-out mit einer gewissen Selbstverständlichkeit machen, passiert häufig nicht sehr viel. Denn für viele ihrer Freunde und Freundinnen ist es oft nichts Neues, sie haben meist schon längst gespürt, dass sich die Person im anderen Geschlecht wohler fühlt. Aber klar, es gibt leider auch Coming-outs, die nicht nur auf Wohlwollen stossen.

Wie merkt man, dass man trans ist?

Mir haben einige Betroffene erzählt, es fühle sich an, wie wenn ein Schuh nicht passt. Aber diese Wahrnehmung ist unterschiedlich – gerade bei Menschen im Autismus-Spektrum. Einige sagen, es sei mehr der Körper, der für sie gar nicht stimmt, es stört sie, dass sie einen Penis, Barthaare oder Brüste haben. Andere stört es mehr, wenn sie mit Herr oder Frau angesprochen werden – weil sie sich in dieser Rolle nicht wohlfühlen. Jugendliche mit Autismus entsprechen übrigens oft nicht dem gängigen Bild von trans Menschen.

Wie meinen Sie das?

Manche Eltern erwarten, dass ihr trans Mädchen nun weibliche Stereotype erfüllt und zum Beispiel Röcke oder Schmuck tragen möchte. Das muss jedoch keineswegs so sein. Ich kenne viele autistische Menschen, die ihren Kleidungsstil kaum verändern wollen, weil sie es sensorisch
unangenehm finden, andere Kleidungsstücke zu tragen. Generell ist es bei einer Transition wichtig, sich von starren Normvorstellungen zu lösen. Bei autistischen Personen ist dies jedoch noch bedeutsamer, da sie oft weniger normkonform leben und ihre eigenen Wege finden.

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Autismus liegt in einem grossen Spektrum. Wo stehen denn die Menschen, die Sie aufsuchen?

In der Praxis treffe ich Menschen aus fast dem gesamten Spektrum. Etwa Jugendliche mit durchschnittlichem bis überdurchschnittlichem IQ, die über eine durchschnittliche Sprache verfügen. Ich sehe aber auch Jugendliche, die grosse Schwierigkeiten mit der Kommunikation haben oder in
der Entwicklung zurückgeblieben sind, sich aber trotzdem äussern können, dass sie sich beispielsweise dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen oder nonbinär sind.

Für Eltern ist die doppelte Thematik Autismus und trans bestimmt nicht immer einfach.

Tatsächlich ist es eine Herausforderung. Denn Autismus bringt oft auch eine Kommunikationsstörung mit sich, und für die Eltern ist das Thema oft so neu, dass auch sie das Vokabular dafür noch nicht kennen. Da ist es wichtig, dass Eltern und Kind zusammen einen Weg zur Verständigung finden, sodass die Eltern die Situation verstehen. Deshalb rate ich den Eltern jeweils, sich breit über das Thema zu informieren und gleichzeitig herauszufinden, wie und in welcher Form sie sich jetzt und in Zukunft mit ihrem Kind darüber austauschen können.

Information und Beratung

Neuroqueers, für queere Menschen im Autismus-Spektrum:
www.haz.ch

Geschlechtsinkongruenz-Sprechstunde KJPP Zürich:
www.pukzh.ch/geschlechtsinkongruenz

Transgender Network Schweiz:
www.tgns.ch

Checkpoint Zürich, Gesundheitszentrum für queere
Menschen:
www.cpzh.ch

Regenbogenhaus, Beratung, Info und Treffs:
www.dasregenbogenhaus.ch

Queere Jugendliche:
www.milchjugend.ch

Informieren an der Tagung am 13. März 2026 als Referentin über das Thema Neurodivergenz und Geschlechtsidentität. Was versprechen Sie sich von diesem Anlass?

Ich freue mich sehr, dass das Thema nun auch in Zürich breiter behandelt wird. Ich erachte es als wichtig, darüber zu informieren, sodass auch Fachpersonen ihre Fragen nicht cis-normativ stellen – also mit der selbstverständlichen Annahme, dass eine bestimmte Person sich in ihrem zu geordneten Geschlecht wohlfühlen und Stereotype erfüllen muss – und dass auch Eltern wissen, dass solche Themen bei Autismus vermehrt auftauchen können. Nicht zuletzt soll die Tagung auch dazu dienen, den Betroffenen und Angehörigen die Ängste zu nehmen und zu zeigen, dass das nichts Schlimmes ist und dass es sich als queere Person gut leben lässt.

Tagung «Wer bin ich? Der Zusammenhang von Neurodivergenz und Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter»

Die Tagung richtet sich an Eltern und Fachpersonen, für die eine achtsame und offene Begleitung
von queeren Jugendlichen mit Neurodivergenz wichtig ist. Die Referent:innen gehen an der
Tagung den Fragen nach, was die Identitätsfindung für neurodivergente Kinder bedeutet,
wie sie begleitet und beraten werden und welche Herausforderungen sich dabei stellen.

Interview: Regula Burkhardt
Bilder: iStock, zvg,, KI

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