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Fokus: ADHS

ADHS – Kindheit mit Hürden

ADHS ist die häufigste Entwicklungsstörung im Kindes- und Jugendalter. Betroffene Kinder können sich oft schlecht konzentrieren, sind unaufmerksam und ecken in der Schule und bei Mitmenschen häufig an. Einige Fakten über eine Diagnose, die in aller Munde ist.

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ADHS – Kindheit
mit Hürden

ADHS ist die häufigste Entwicklungsstörung im Kindes- und Jugendalter. Betroffene Kinder können sich oft schlecht konzentrieren, sind unaufmerksam und ecken in der Schule und bei Mitmenschen häufig an. Einige Fakten über eine Diagnose, die in aller Munde ist.

Eigentlich hat der Tag gut angefangen. Nevin hat gefrühstückt, sich ohne zu murren angezogen und ist pünktlich aus dem Haus, Richtung Schule, gegangen. Unterwegs allerdings weckt eine Baustelle seine Aufmerksamkeit. Der Bagger ist gerade mit seiner grossen Schaufel zugange, auch ein Lastwagen ist bei der Arbeit. Nevin ist fasziniert, bleibt stehen, beobachtet und vertieft sich in das
Baustellengeschehen. Irgendwann reisst er sich los. Was war eigentlich sein Plan? Ah ja, in die Schule hätte er gehen sollen … Als er dort eintrifft, hat der Unterricht längst begonnen. Nevin setzt sich an seinen Platz. Nicht lange, und schon steht er wieder auf, rennt zum Fenster, schaut, ob er von hier die Baustelle sieht. So weit aber kommt es nicht. Der Lehrer nimmt ihn an der Hand, führt ihn zurück zum Pult. Einige Klassenkamerad:innen beschweren sich, weil Nevin den Unterricht unterbrochen hat.

Wenn Nevin nach einem ereignisreichen Tag in der Schule und im Hort abends nach Hause kommt, ist er oft so erschöpft, dass er seinen Schulrucksack auf den Boden wirft, schreit und tobt. Wollen ihn die Eltern beruhigen, haben sie meist wenig Erfolg. Nevin ist wütend, ihn plagen Selbstzweifel, es scheint, als könne er es niemandem recht machen.

Die oben beschriebene Situation ist fiktiv, könnte sich so oder ähnlich aber in einigen Familien zugetragen haben.

Weit verbreitete Entwicklungsstörung

ADHS ist die häufigste Entwicklungsstörung im Kindes- und Jugendalter. Rund 5 Prozent der Kinder sind davon betroffen. Die Buchstaben ADHS stehen für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyper-/Hypo-Aktivitätsstörung. Früher unterschied man ADHS und ADS. Neu wird nur noch von ADHS gesprochen, ADS wird als Unterform betrachtet und heisst neu: ADHS, vorwiegend unaufmerksam (also ohne Hyperaktivität). Kinder mit ADHS unterscheiden sich meistens in mehreren Bereichen von anderen.

Einige können beispielsweise schlecht vorausschauend planen, haben Mühe, sich über längere Zeit zu konzentrieren, machen Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten, scheinen nicht zuzuhören, wenn andere sie ansprechen, verlieren oder vergessen öfters Gegenstände oder sie zappeln, reden und bewegen sich übermässig viel. Manche Kinder mit ADHS sind sehr kreativ oder ausserordentlich sportlich. Wenn sie sich für etwas interessieren, können sie sich gut ins Thema vertiefen und sich grosse Kompetenzen aneignen. ADHS ist eine Spektrumstörung, das heisst, Kinder können von ganz leicht bis sehr stark davon betroffen sein. Auch können die Symptome unterschiedlich in Erscheinung treten.

Mögliche Ursachen

ADHS kann genetisch bedingt sein, die Erblichkeit liegt bei 70 – 80 Prozent. Deshalb sind nicht selten gleich mehrere Familienmitglieder davon betroffen, manchmal ohne es zu wissen. Zu einem kleineren Teil sind auch Umweltfaktoren und psychosoziale Faktoren für ADHS relevant. Aktuell wird zudem untersucht, inwiefern das Mikrobiom, also die Zusammensetzung der Darmbakterien, Einfluss auf ADHS haben könnte. Oft wird behauptet, ADHS habe in den letzten Jahren massiv zugenommen.
Mehrere Quellen widersprechen jedoch dieser These: Nicht ADHS habe zugenommen, sondern das Wissen darum. Und dies führt zu einer häufigeren Diagnosestellung. Gleichzeitig hat sich aber auch die Gesellschaft verändert. Produktivität und Angepasstheit werden hoch gewertet. Deshalb ecken Kinder mit ADHS häufiger an und werden öfter als früher als störend wahrgenommen.

ADHS mit Hyperaktivität

Aufgeweckte, aktive Kinder trifft man oft. Doch wann sollte man nicht nur von einem sehr aktiven Kind, sondern von einer Entwicklungsstörung wie ADHS ausgehen? «Zeichen für ADHS sind unter anderem Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität oder ein kombiniertes Erscheinungsbild. Beobachtet man diese Symptome in mindestens zwei oder mehreren Lebensbereichen, also beispielsweise sowohl in der Familie als auch in der Schule, und ist der Leidensdruck für die Kinder und ihr Umfeld
hoch, sollten Eltern bei Fachpersonen Rat suchen oder den Kontakt zum Kinderarzt zur Kinderärztin herstellen», sagt Susanne Spalinger. Sie ist Co-Geschäfts- und Fachstellenleiterin bei der ADHS-Organisation elpos Schweiz und berät Menschen mit ADHS sowie Eltern und Angehörige. Häufig sei eine ADHS-Abklärung nach dem Eintritt in die Schule ein Thema, dann nämlich steigen die
Anforderungen an das Kind und die Symptome zeigen sich stärker, etwa im Unterricht, weil es nicht stillsitzen kann, reinschwatzt oder weil es häufig die Hausaufgaben vergisst. Bei Verdacht auf ADHS wird der Kinderarzt, die Kinderärztin das Kind an eine spezialisierte Fachstelle zur klinischen Diagnose überweisen.

Sofern der Leidensdruck nicht übermässig hoch ist, wird bei Kindern unter sieben Jahren mit einer ADHS-Abklärung häufig noch zugewartet, bis sie älter sind. Dies, weil gewisse Anzeichen im frühen Kindesalter auch aufgrund einer Entwicklungsverzögerung auftreten können.

ADHS ohne Hyperaktivität

Kinder mit ADHS ohne Hyperaktivitätskomponente (früher ADS) sind alles andere als zappelig. Sie wirken oft abwesend und verträumt und sitzen still an ihrem Platz. Sie ecken bei Lehrpersonen und bei den Klassenkameradinnen und -kameraden selten an, sind angepasst. Weil sie nicht auffallen, werden sie häufiger übersehen. Oft bemerken Lehrpersonen erst, dass das Kind ADHS haben könnte, wenn es den Schulstoff nicht bewältigt, obwohl es zu Hause viel Zeit für Hausaufgaben investiert. «Es kann auch sein, dass sich ein Kind mit ADHS ohne Hyperaktivität in der Schule gut anpasst – sich seine Überforderung dann aber zu Hause in Form von Wutanfällen entlädt», so Susanne Spalinger. Auch
habe man festgestellt, dass Essstörungen oder Depressionen, die in der Pubertät auftreten, Begleiterkrankungen eines unentdeckten ADHS sein können.

Hyperfokus

Der Hyperfokus, der bei Menschen mit ADHS auftreten kann, wird gerne als Superkraft gepriesen. Der Begriff wird verwendet, um den Zustand intensiver Konzentration zu beschreiben. Er tritt auf, wenn sich jemand sehr stark für ein Thema interessiert, und führt
zu hoher Leistungsfähigkeit. Erwachsene Menschen mit ADHS können den Hyperfokus unter guten Bedingungen auch im Beruf nutzen. Bei Kindern verhält es sich oft etwas anders. «Kinder mit ADHS können tatsächlich dann sehr leistungsstark sein, wenn sie Unterrichtsinhalte spannend finden. Aber: Der Hyperfokus ist nicht steuerbar. Das heisst, wenn ein Kind Inhalte langweilig findet oder die Beziehung zur Lehrperson schwierig ist, tritt er nicht auf und dann zeigen sich die typischen Schwierigkeiten im schulischen Alltag», so Susanne Spalinger, Co-Geschäfts- und Fachstellenleiterin bei der ADHS-Organisation elpos Schweiz.

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Die Chemie ist anders

Kinder mit ADHS hören häufig: Tu das nicht! Sitz still! Reiss dich zusammen! Zusammenreissen können sie sich allerdings nicht. Denn: Bei Menschen mit ADHS stehen die Neurotransmitter wie Dopamin und Noradrenalin im Gehirn schlicht nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Dopamin ist massgeblich an der Steuerung von Aufmerksamkeit, Motivation und Antrieb beteiligt, Noradrenalin ist für Aufmerksamkeit und Aktivität zuständig. Es wirkt sich aber auch auf die Fokussierung und Impulskontrolle aus. In erster Linie sind bei ADHS also Gehirnregionen betroffen, die für die Verhaltenssteuerung und die Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. Studien zeigen, dass sich das Gehirn von Kindern mit ADHS in bestimmten Bereichen langsamer entwickelt als jenes von gleichaltrigen
neurotypischen Kindern. Das kann dazu führen, dass sie in ihrer emotionalen Entwicklung in gewissen Bereichen zurückliegen.

Multimodales Therapiekonzept

Weil kein Kind mit ADHS gleich ist wie das andere, benötigt jedes eine individuell abgestimmte Behandlung. Das macht es nicht einfach und ist für die gesamte Familie oft ein langer Prozess, der viel Geduld, Einfühlungsvermögen und Mut erfordert. Die ADHS-Organisation elpos Schweiz rät zu einem multimodalen Therapiekonzept, welches drei Bereiche umfasst:

  1. Psychoedukation
    Die Betroffenen und ihr Umfeld werden eingehend über das Thema ADHS informiert und beraten. Man geht davon aus, dass, je besser das Umfeld ADHS versteht, desto besser alle damit umgehen können. Wichtig ist, dass auch das schulische Umfeld einbezogen wird. Dieses Wissen hilft, besser auf die betroffenen Kinder einzugehen, Situationen anders anzugehen oder Erwartungen anzupassen.
  2. Therapie
    Welche Therapie ist die richtige? Die Antwort liegt dort, wo aktuell die grösste Herausforderung besteht und wo etwas zum Kind und zur Familie passt. Im schulischen Bereich kann beispielsweise mit Psychomotorik gefördert werden, im Privaten mit Lerncoaching, Ergo- oder Psychotherapie oder mit alternativen Therapien.
  3. Medikamente
    Auch sie können zur Therapie gehören. Medikamente dürfen nur von ausgebildeten Fachleuten verschrieben werden und nur bei Einwilligung des Kindes und der Eltern. Wichtig ist, dass das Medikament richtig eingestellt ist und dies von medizinischen Fachpersonen regelmässig überprüft wird.

Die Familie leidet mit

Oft sind Eltern von Kindern mit ADHS sehr verzweifelt, da die Situation an der Schule und zu Hause eskaliert. Eine Mutter, die lieber anonym bleiben möchte, sagt: «Ich weiss nicht so recht, wie ich meinem Sohn helfen kann, und habe das Gefühl, viel zu spät reagiert zu haben. Viele Therapien sind über Monate hinaus ausgebucht. Wir haben aber keine Zeit, zu warten, weil die Situation in der Schule untragbar ist, die Lehrer:innen Druck machen und mein Kind unter der Situation enorm leidet.» Susanne Spalinger kennt solche Aussagen nur zu gut. «Oft brennt es an vielen Stellen. Wichtig ist, dass die Familien zuerst die dringendsten Probleme lösen und dann Schritt für Schritt die nächsten angehen. Das braucht Zeit und Geduld», sagt sie. Und: «Ein Kind mit ADHS benötigt eine enge Begleitung durch Eltern und Lehrpersonen – das kann sehr anstrengend sein. Ich rate daher
Eltern, auch gut auf sich zu achten, sich nicht zu überfordern, Hilfe zu holen und anzunehmen und trotz all den Herausforderung verständnisvoll mit den Kindern zu sein.»

ADHS verändert sich mit den Lebensjahren

Da ADHS aufgrund einer neurologischen Struktur besteht, verschwindet es auch im Erwachsenenalter nicht, die Situation für die Betroffenen wird aber meistens einfacher. Während Kinder in der Schule oftmals «einfach funktionieren» müssen, ist es für sie schwierig, mit den Anforderungen zurechtzukommen. Erwachsene hingegen können ihr Umfeld und ihre Aufgaben selbst wählen. Das macht es etwas leichter. «Zudem verändert sich die ADHS-Symptomatik im Laufe der Entwicklung: Die ausgeprägte körperliche Unruhe im Kindesalter wandelt sich in der Jugend oft zu einer inneren Unruhe, die Hyperaktivität ist weniger sichtbar», erklärt Susanne Spalinger und ergänzt: «Wer als Kind Strategien gelernt hat, wie es mit seiner Impulsivität oder Hyperaktivität umgehen kann, wird als erwachsener Mensch besser mit seinem ADHS umgehen können. Wer zudem einen Beruf ausüben kann, der gut passt und interessant ist, wird sein ADHS weniger als störend empfinden, oder vielleicht sogar als Ressource nutzen können.»

Tipps, Hilfe und Beratung

Beratung, Aufklärung und Vernetzung
Die ADHS-Organisation elpos Schweiz bietet für Menschen mit ADHS, Eltern, Angehörige und Schulen persönliche Beratung und Unterstützung an. An Veranstaltungen in der ganzen Schweiz und online informieren Fachpersonen regelmässig über spezifische Themen rund um ADHS. Eltern sowie Menschen mit ADHS können sich in Gesprächsgruppen treffen, sich austauschen und vernetzen.
Beratungstelefon: T 044 311 85 20
Beratung per Mail: beratung@elpos.ch
www.elpos.ch

Information und Austausch
Der Verein ADHS/ADS Schweiz unterstützt, vernetzt und informiert ADHS-Betroffene sowie Angehörige und Interessierte.
www.adhs-ads-schweiz.ch

Abklärung und Behandlung
Expertisezentren für Diagnostik und Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen.

Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich:
www.pukzh.ch (unter: Unsere Angebote › Kinder- und
Jugendpsychiatrie › Behandlungsschwerpunkte)

Kinderspital Zürich:
www.kispi.uzh.ch (unter: Fachkompetenzen › Entwicklungspädiatrie

Mediennutzung
Kinder mit ADHS reagieren auf digitale Medien extremer.
Pro Juventute gibt Tipps zum Thema:
www.projuventute.ch/adhs

ADHS auf Youtube
Unter dem Namen DocJoe betreibt der ADHS-Spezialist Dr. Joe Geisser einen Youtubekanal rund um das Thema ADHS.

Weiterführende Artikel
Das Schweizer Eltern-Magazin «Fritz und Fränzi» widmet sich dem Thema ADHS ausführlich in einem Dossier:
www.fritzundfraenzi.ch

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