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Fokus: Wohnen

Das Ziel: Freie Wahl der Wohnform für alle

Längst nicht alle Menschen mit einer Behinderung können in der eigenen Wohnung leben, obwohl sie sich das eigentlich wünschten. Der Grund: vielerorts fehlen die nötigen Strukturen, damit selbstbestimmtes Wohnen mit oder ohne Assistenz möglich ist. Bis 2030 sollte der Systemwechsel formell geschafft sein.

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Das Ziel: Freie Wahl
der Wohnform für alle

Längst nicht alle Menschen mit einer Behinderung können in der eigenen Wohnung leben, obwohl sie sich das eigentlich wünschten. Der Grund: vielerorts fehlen die nötigen Strukturen, damit selbstbestimmtes Wohnen mit oder ohne Assistenz möglich ist. Bis 2030 sollte der Systemwechsel formell geschafft sein.

«Ich ziehe aus!», sagte sich Asli, die in diesem Artikel nicht mit vollem Namen genannt werden möchte. Als sie diesen Entschluss fasste, lebte die 27-Jährige in einer betreuten Zehn-Personen-WG der Mathilde Escher Stiftung in Zürich. Allerdings ist ein Auszug aus einer Institution und der Wechsel in eine eigene Wohnung für jemanden mit Zerebralparese nicht einfach. Trotzdem hat sie das Abenteuer gewagt. Im November 2023 stellte sie bei der Invalidenversicherung einen Antrag und erhielt die Zusage für den erforderlichen Assistenzbeitrag. Nach nur sechs Monaten wurde sie auch auf dem Wohnungsmarkt fündig und bekam den Zuschlag für eine ruhige Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem Neubau im Zürcher Oberland. Da sie auf den Rollstuhl angewiesen ist, musste sie vor ihrem Einzug aber noch den Umbau des Badezimmers organisieren sowie drei Assistenzpersonen rekrutieren, sodass die erforderliche Unterstützung im neuen Zuhause stundenweise sichergestellt war. Es war ein grosser Aufwand.

Trotzdem: Asli freut sich sehr über ihre neue Wohnung «Jetzt kann ich nach meinem eigenen Zeitplan leben, die Wohnung einrichten, wie ich will, und auch viele andere Freiheiten, die ich im Heim nicht hatte, geniessen!»

Asli hatte Glück. Immer noch können längst nicht alle Menschen mit Behinderungen frei wählen, wie und wo sie leben. Dies, obwohl dieses Recht in der UNO-Behindertrechtskonvention (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat, festgehalten ist. Unter anderem dafür wurde die Schweiz vom UNO-Behindertenrechtsausschuss gerügt.

Objektfinanzierung

Bei diesem Modell gehen die Gelder aus der öffentlichen Hand direkt an die Institution (Werkstätte, Wohnheim, Tagesheim) und entschädigen diese pauschal für die beanspruchten Leistungen.

Subjektfinanzierung

In Kantonen mit Subjektfinanzierung werden die Leistungen gemäss individuellem Bedarf ausgerichtet. Das heisst, die finanziellen Ressourcen gehen direkt an die Menschen mit Behinderung. Sie können das Geld auch für Unterstützung durch Drittanbietende einsetzen.

Komplexität erschwert Neuerung

Es bestehen mehrere Gründe, weshalb die Schweiz die Empfehlungen der UNO-BRK punkto selbstbestimmten Wohnens bisher nicht umgesetzt hat. Entscheidend sind die Trägheit des Systems, aber auch die Komplexität der Finanzierung. Für den Paradigmenwechsel sind sowohl der Bund als auch die Kantone in der Pflicht. Der Bund kann im Bereich des Wohnens jedoch nur einen gewissen Rahmen vorgeben, die Kantone müssen sich selber untereinander absprechen. So kommt die Schweiz aktuell einem Flickenteppich gleich, bestehend aus unterschiedlichen Gesetzen und Finanzierungsmodellen.

Giulia Brogini, Leiterin der Geschäftsstelle Behindertenpolitik Bund und Kantone im Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) erklärt es so: «Bei der Schaffung des Bundesgesetzes über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG) vor rund zwanzig Jahren wollte man Menschen mit Behinderungen primär den gleichberechtigten Zugang zu einer Institution gewährleisten. In der Folge bauten die Kantone ihr Angebot an Werkstätten, Wohnheimen und Tagesheimen aus. Sie vereinbarten unter anderem, sich gegenseitig an den Aufenthaltskosten einer Person, die keine angemessene Institution im Kantonsgebiet finden kann, zu unterstützen.» Mittlerweile haben einzelne Kantone zusätzlich neue Finanzierungsmodelle eingeführt und ambulante Settings aufgebaut, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, selbstbestimmt zu leben (Subjektfinanzierung) – in anderen Kantonen ist dies allerdings noch nicht gewährleistet (Objektfinanzierung). Eine aktuelle Übersicht über die Modelle einzelner Kantone zeigt Insieme in ihrem Blog: blog.insieme.ch/inklusion.

Kantonswechsel sind bisweilen nicht möglich

Wer in einem Kanton lebt, der bereits die Subjektfinanzierung anbietet, kann in der eigenen Wohnung leben und erhält die nötigen finanziellen Mittel für individuelle Unterstützung. Das Recht auf freie Wohnform ist in diesem Rahmen somit gegeben. Falls diese Person jedoch selbstständig in eine Wohnung in einen anderen Kanton zieht, erhält sie möglicherweise nicht mehr dieselbe finanzielle Unterstützung. Gründe dafür sind die derzeit fehlende interkantonale Vergleichbarkeit, fehlende Kostentransparenz und fehlende Harmonisierung der ambulanten Leistungen. Gemäss Gaby
Szöllösy, SODK-Generalsekretärin, arbeitet die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) zurzeit an einer Lösung. In der SODK sind die Regierungsmitglieder der 26 Kantone vereinigt, die den Sozialdepartementen vorstehen. Szöllösy sagt: «Aktuell sind wir damit beschäftigt, Empfehlungen für ambulante Leistungen zu verabschieden, welche das ambulante Wohnen erleichtern. Wir wollen bis Ende Jahr ein konkretes Ergebnis präsentieren.» Allerdings handelt es sich dabei, «nur» um Empfehlungen, da die SODK keine Kompetenz hat, in die kantonalen Systeme einzugreifen.

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Neue, innovative Ideen sind gefragt

Giulia Brogini vom EBGB geht trotz der erschwerten Ausgangslage davon aus, dass die Schweiz bis 2030 formell den Systemwechsel schaffen dürfte, um Menschen mit Behinderungen die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts zu gewährleisten. Allerdings reicht das nicht. Denn es brauche auch genügend verfügbare und an den individuellen Bedarf angepasste Dienstleistungsangebote. «Mit
den neuen Möglichkeiten werden sich viele Menschen mit Behinderungen für eine individuelle Wohnform ausserhalb des institutionellen Rahmens entscheiden. Die Nachfrage nach neuen Hilfsmitteln, neuen Unterstützungsformen und auch Assistenzleistungen wird also steigen. Und diese Angebote müssen bereitgestellt werden und finanzierbar sein. Aufgrund des sich weiter zuspitzenden Fachkräftemangels und des beschleunigten demografischen Wandels wird dies eine enorme Herausforderung sein.»

Für die Zukunft erhofft sich Brogini nicht nur ein breites, sondern auch ein flexibles Wohnangebot: «Ich stelle mir vor, dass wir nebst den bestehenden Institutionen auch Alternativen schaffen, etwa inklusive Wohngemeinschaften verschiedener Altersgruppen, kleinere und kleinste Wohngruppen – integriert in den Wohnquartieren – mit unterschiedlichen Graden der Autonomie, aber auch sehr spezifische Angebote für Menschen, die sich in schwierigen Übergangsphasen oder Krisensituationen befinden. Es braucht zudem mehr Experimentierfreudigkeit und Innovationsgeist vonseiten aller Beteiligten, sodass Betroffene ohne Angst vor Verlusten neue alternative Wohnformen ausprobieren, sie aber auch wieder verwerfen können, wenn das Neue nicht funktioniert. Wichtig ist, dass wir jetzt ein System schaffen, den aktuellen Bedürfnissen angepasst ist, das aber auch wandelbar ist, falls sich die Bedürfnisse der Gesellschaft wieder ändern sollten.»

Inklusions-Initiative macht Druck

Es tut sich also etwas in Sachen Gleichstellung – wenn auch nur langsam. Aktuell arbeitet der Bund an der Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes, mit Anerkennung der Schweizer Gebärdensprachen, Verbesserungen im Dienstleistungsbereich sowie im Rahmen der privaten Arbeitsverhältnisse. Auch trugen die diesjährigen Nationalen Aktionstage Behindertenrechte dazu bei, dass das Thema breiter in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Ein grosser Schritt ist zudem die Inklusions-Initiative. Sie wurde am 5. September eingereicht und fordert unter anderem das Recht auf freie Wohnform und freien Wohnort aller Menschen sowie die Verankerung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung. Damit machen die Initiant:innen Druck auf Bund und Kantone und geben ihnen einen klaren Verfassungsauftrag, mit der Gleichstellung endlich vorwärtszumachen.

In der Praxis zu kompliziert

Zurück zu Asli: Mit ihrem Umzug in die eigene Wohnung wird die junge Zürcherin Arbeitgeberin von drei Assistentinnen. Sie kümmert sich nun – nebst ihrem 50-Prozent-Job – um Einsatzpläne, Verträge, Lohnbuchhaltung und Versicherungen. Mitte Juni wird ihr alles zu viel und sie bricht zusammen. Ihr Arzt schreibt sie krank. «Es sind die Belastung als Arbeitgeberin und der Stress, jemanden neuen zu finden, wenn eine Assistentin kündigt, die mir zu viel wurden», sagt sie im Sommer. Trotzdem möchte Asli ihre Wohnsituation nicht ändern: «Ich bin sehr froh, dass ich dank Assistenzbeiträgen selbstständig leben kann. Allerdings habe ich festgestellt, dass das Modell sehr aufwändig und kompliziert ist.» Für die Zukunft wünscht sie sich deshalb ein Modell, das viel einfacher funktioniert, sodass es für mehr Menschen eine Option ist, nicht nur für jene, die sich im Personalwesen auskennen.

Mehr zum Thema

Weiterführende Artikel
Wissenswertes rund ums Thema Wohnen:
www.enableme.ch (unter: Thema / Wohnen)

News und Hintergrundwissen:
www.insieme.ch/thema/wohnen

Wohnangebote online finden
Angebotsplattform, die von 16 Kantonen betrieben
wird, mit Wohn- oder Arbeitsangeboten für erwachsene Menschen mit Behinderungen:
www.meinplatz.ch


Barrierefreie Wohnung finden
Wohnungsbörse für barrierefreie Wohnungen:
www.procap.ch/angebote/online-service


Leben mit Assistenz
Assistenzjob-Plattform und digitales Hilfsmittel
für Menschen mit Assistenz (ist im Aufbau):
www.clea.app

Text: Regula Burkhardt
Fotos: Adobe Stock

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