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Fokus: Feste feiern

Wie schön, dass du geboren bist!

Der Geburtstag eines Kindes soll etwas ganz Besonderes sein. Deshalb wird er in der Heilpädagogischen Tagesschule der Stiftung visoparents mit einem feierlichen Ritual, mit Kerzen, Gesang und Musik zelebriert. Jede Aktivität ist dabei ganz auf die Bedürfnisse der Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung zugeschnitten.

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Wie schön, dass du geboren bist!

Der Geburtstag eines Kindes soll etwas ganz Besonderes sein. Deshalb wird er in der Heilpädagogischen Tagesschule der Stiftung visoparents mit einem feierlichen Ritual, mit Kerzen, Gesang und Musik zelebriert. Jede Aktivität ist dabei ganz auf die Bedürfnisse der Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung zugeschnitten.

Den eigenen Geburtstag erlebt jedes Kind als einen Höhepunkt im Kalenderjahr. Er ist ein Ereignis, das mit vielen Emotionen verbunden ist. Auch als Erwachsene erinnern wir uns noch an die (Vor-)Freude und die Aufregung, die feierlichen Momente, an den Duft der Geburtstagstorte oder vielleicht auch daran, wie enttäuscht wir waren, wenn das Fest nicht so verlief wie erhofft. An der Heilpädagogischen Tagesschule der Stiftung visoparents in Zürich-Oerlikon unterrichten wir 20 Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren mit schwerer Mehrfachbehinderung. Wir begleiten und fördern jedes Kind individuell und entsprechend seinen Fähigkeiten. Wir erachten jedes einzelne als etwas ganz Besonderes. Deshalb feiern wir auch jeden Geburtstag unserer Schülerinnen und Schüler gebührend – immer unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Verfassung, ihrer individuellen Fähigkeiten und ihrer Bedürfnisse.

Kontrastreiche Aktivitäten sind besser wahrnehmbar

Menschen mit einer schweren Mehrfachbehinderung erleben Einschränkungen in den Entwicklungsbereichen Motorik, Sinnestätigkeit, Kommunikation, Kognition, Sozialerfahrung und Emotionalität. Sie benötigen bei vielen oder gar bei allen Lebensverrichtungen die zugewandte Hilfe anderer. Häufig brauchen sie auch körperliche Nähe, um andere Menschen wahrnehmen zu können. Sie kommunizieren nonverbal und wollen auf individuelle Weise verstanden werden. Und sie sind auf Personen angewiesen, die ihnen die Umwelt auf eine für sie erfahrbare Weise nahebringen (Fröhlich 2019).

Wie kann man, wenn man eine solche Teilhabeeinschränkung hat, den Geburtstag lustvoll erleben und feiern? Und wie kann ein Geburtstagsfest gelingen, welches speziellen Bedürfnissen entspricht? Das weiss Nicole Waldvogel, Heilpädagogin in der Basisstufe. Sie hat sich eingehend mit der Thematik befasst und ein Geburtstagsritual für die Kinder und Jugendlichen an der Tagesschule kreiert und etabliert. Sie sagt: «Wir feiern die Geburtstage immer in der Gemeinschaft mit den Mitschülerinnen und Mitschülern sowie mit den Lehr- und Betreuungspersonen. Die Aktivitäten am Geburtstagsfest gestalten wir kontrastreich und achten darauf, dass sie für die Schülerinnen und Schüler möglichst mit allen Sinnen wahrnehmbar sind. Das gelingt uns unter anderem mit Musik, Gesang, Berührung und Kerzenschein.» Wichtig sei auch, dass die Aktivitäten in ein Ritual integriert werden. Die Kinder und Jugendlichen der Basisstufe können so die wiederkehrenden Elemente erleben. Das gibt ihnen Sicherheit und damit die Kraft, sich wiederum auf Neues einzulassen.

Wirkungsweise des Rituals

Wichtige Tage wie Geburtstage, Weihnachten oder Ostern begehen viele Menschen gerne mit wiederkehrenden, ritualisierten Aktivitäten, sei das mit einem gemeinsamen Essen, gemeinsamem Singen oder vielleicht einem gemeinsamen Ausflug. Für Kinder und Jugendliche haben Rituale eine grosse Bedeutung, insbesondere dann, wenn eine Behinderung das Leben prägt. Durch sie gelingt es ihnen, bereits Bekanntes zu festigen und aus dieser Sicherheit heraus Neues zu lernen. Professor Andreas Fröhlich schreibt in seinem Buch «Basale Stimulation» von 2019 Folgendes: «Das Wesensmerkmal eines Rituals ist die Versammlung einer Anzahl von Menschen, deren Gemüter durch den ritualisierten Ablauf in dieselbe Schwingung kommen. In dieser Vergemeinschaftung werden individuelle Kräfte freigesetzt.»

Ritual mit Musik, Gesang und Kerzen

Das Geburtstagsfest in der Tagesschule startet jeweils gleich am Morgen. Heute feiern wir in der Basisstufe. Alle vier Schülerinnen und Schüler dieser Klasse sind dazu eingeladen und finden sich in einem Kreis im Schulzimmer ein. Anwesend sind natürlich auch alle Betreuungspersonen, die an diesem Tag in der Klasse tätig sind.

Nun beginnt das Ritual. Als Erstes darf das Geburtstagskind an der Drehorgel das Lied «Happy Birthday» spielen. Kann es dies nicht selber tun, erhält es Unterstützung von einer Betreuungsperson, oder es übernimmt ein Klassenkamerad oder eine Klassenkameradin. Weil das Geburtstagsritual immer mit der Drehorgelmusik beginnt, kann sich damit die ganze Geburtstagsgesellschaft auf die bevorstehende Feier einstimmen. Die Klänge der Drehorgel berühren einen sowohl emotional als auch physisch, sie lassen sich auf der Haut erfühlen. Jetzt kommen Luftschlangen und Ballone ins Spiel. Die Kinder können sie mit den Händen befühlen, die Struktur wahrnehmen. Oft lachen sie, wenn wir die Luftschlangen herauspusten und sie ihnen wie einen Schal auf die Schultern legen. Die Ballone blasen wir auf. Sie sind rund und glatt, sie quietschen und sie zerplatzen mit einem lauten Knall, wenn wir nicht aufpassen.

«Die Aktivitäten am Geburtstagsfest gestalten wir kontrastreich, sodass sie mit allen Sinnen wahrnehmbar sind.»

Tagesschule visoparents

Wir dimmen nun die Lichter. Im dunklen Zimmer erblickt das Geburtstagskind die brennenden Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen. Jetzt singen die Gäste «Happy Birthday». Danach überreichen wir die grosse Geschenkbox mit der Schleife. Das Geburtstagskind darf sie öffnen und den Deckel abheben. Das Geschenk ist mit Bedacht ausgesucht und passt jeweils zum Schuljahresthema. In diesem Jahr beschäftigen wir uns mit «Musik». In der Geschenkbox befindet sich deshalb eine Mini-Drehorgel, die das Kind natürlich mit nach Hause nehmen und zusammen mit seiner Familie bespielen kann.

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Das Fest gelingt, wenn das Angebot stimmt

Und wie kommt das Geburtstagsritual bei den Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung an? Nicole Waldvogel sagt: «Wenn unsere Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit auf ein Angebot lenken und emotional positiv darauf reagieren, dann haben wir das Angebot passend ausgewählt. Manchmal ist es eine richtige Gratwanderung, den verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden, es muss oft genau das richtige Fokus Angebot sein, nicht zu kurz und nicht zu lang in der Zeitdauer, nicht zu schwer und nicht zu einfach in der Aufgabe.»

Mit Erfahrungen die Tür zur Welt öffnen

Kindheitserfahrungen zu machen, ist für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung keineswegs selbstverständlich, weil sie, wie eingangs beschrieben, praktisch in jeder Lebenssituation auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Ihnen über Erfahrungen die Tür zur Welt und zur eigenen Weiterentwicklung zu öffnen, ist eine unserer Hauptaufgaben an der Heilpädagogischen Tagesschule, ganz besonders am Geburtstag, dem wichtigsten Tag im Jahr eines jeden Kindes.

Literatur: «Basale Stimulation», Lars Mohr, Matthias Zündel und Andreas Fröhlich (Hrsg.), hogrefe 2019
Text: Margit Riedel
Fotos: Vera Markus, Heilpädagogische Tagesschule visoparents

Weitere Informationen zur Tagesschule visoparents:

Themen

2 Gedanken zu “Wie schön, dass du geboren bist!”

  1. Christine Aepli sagt:

    sehr schön beschrieben, schöner Ansatz; aus wenigen Erfahrungen und der Reflexion daraus im Bereich der sonderpädagogischen Pädagogik hat sich eine Frage aufrechterhalten aus dem Hintergrund eures Zitates nach Andreas Fröhlich «Das Wesensmerkmal eines Rituals ist die Versammlung einer Anzahl von Menschen, deren Gemüter durch den ritualisierten Ablauf in dieselbe Schwingung kommen. In dieser Vergemeinschaftung werden individuelle Kräfte freigesetzt.»
    akribisch gestaltete Riuale schliessen häufig die Anwesenheit der Eltern aus, -sie begleiten das Kind mit manchmal reichem Geburridessert für die Klasse, wünschen ein schönes Fest und erfreuen sich später an Fotos und Dank der Schule.In der Stellvertreterposition habe ich jeweils die Rituale übernommen, dem Geburtstagskind viel Raum für sein Fest gegeben mit sseinen Gspänlis, -dennoch haben mir die beteiligten Eltern einfach gefehlt. (gerade bei diesen Geburtstagen, welche auf sehr eigene Geschichten zurückgreifen, auch an sehr traurige Momente erinnern müssten die schönen Schwingungen in der „Vergemeinschaftung“ wieder neue Kröfte für das neue Jahr ermöglichen?

    Mit den besten wünschen auf das 2024, Christine

    1. Tatjana Stucki sagt:

      Liebe Frau Aepli

      Vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Gedanken zum Thema.

      Wir wünschen alles Gute für das 2024!
      Ihr Stiftung visoparents-Team

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